Alle Menschen sind sterblich
sang mit. Sie erhoben sich, einer nach dem andern, und brachten Trinksprüche auf mich aus. Sie erzählten von früher: Garniers Tod, die Rue Transnonain, Sainte-Pélagie und dann jene zehn Jahre, die ich in den Kellern des Mont Saint-Michel verbrachte; mit ihren Menschenworten schufen sie eine blumenreiche Legende, an der sie sich mehr berauschten als an ihrem Gesang; ihre Stimmen bebten vor innerer Bewegung, und in den Augen der Frauen stiegen Tränen auf. Die Toten waren tot; aus dieser toten Vergangenheit machten die Lebenden glühende Gegenwart; die Überlebenden lebten.
Sie sprachen auch von der Zukunft, von dem Fortschritt der Menschheit. Armand erhob sich und sprach. Er sagte, daß die Arbeiter, wenn sie zusammenhielten und wüßten, was sie wollten, die Herren jener Maschinen sein würden, die sie heute bedienten; es würde eines Tages daraus das Werkzeug ihrer Befreiung, ihres Glückes werden; er malte die Zeiten aus, wo Schnellzüge auf Stahlschienen die Schranken überwinden würden, mit denen sich jetzt die Nationen in ihrem egoistischen Protektionismus umgäben; die Erde würde dann ein unermeßlicher Markt sein, auf dem alle Menschen sich zwanglos versorgen könnten … Seine Stimme füllte den Saal; sie aßen, sie tranken nicht mehr, sie hörten nur noch zu; vor ihren Augen standen, jenseits der Wände des Hauses, die goldenen Früchte, die Ströme von Honig und Milch; Marianne blickte durch die zugefrorenen Fenster, sie spürte in ihrem Leib das warme, schwere Gewicht der Zukunft, und sie lächelte; die Frauen warfen sich auf die Knie und schrien, sie zerrissen ihre Kleider, die Männer traten auf ihnen herum; auf den Plätzen, in den Hinterstübchen der Läden oder auf freiem Feld predigten die Propheten: die Zeit der Gerechtigkeit, die Ära des Glücks naht … Ich hörte ihr keuchendes Atmen. Und nun war die Zeit gekommen, denn die Zukunft war heute; die Zukunft der verkohlten Märtyrer, der erwürgten Bauern, der Redner mit den Flammenzungen, die Zukunft, die Marianne ersehnte, das waren jetzt diese Tage, die im Takt der schnurrenden Maschinen verliefen, die langsame Folter der Kinder, Gefängnisse, elende Löcher, Übermüdung, Hunger, Verdruß …
«Jetzt sind Sie an der Reihe», sagte Armand.
Ich stand auf mit dem Willen, ihr weiterhin zu gehorchen: «Bleibe ein Mensch …»
Ich stützte meine Hände auf den Tisch. «Ich bin glücklich», fing ich an, «mich wieder unter euch zu befinden …»
Aber die Stimme fror mir in der Kehle ein. Ich weiltenicht unter ihnen. Diese Zukunft, die für sie so rein und glatt und geschlossen war wie das Firmament, würde für mich eine Gabe werden, mit der ich mich Tag für Tag in Übermüdung und Überdruß würde abfinden müssen.
1944: ich würde dieses Datum auf einem Kalender lesen, während andere Menschen sich mit staunenden Augen das Jahr 2044 vorstellten … Bleibe ein Mensch; aber sie hatte mir auch gesagt: «Wir leben nicht in der gleichen Welt; du blickst mich vom Grunde anderer Zeiten her an …»
Als ich mich zwei Stunden später Armand allein gegenüber befand, sagte ich zu ihm: «Es tut mir leid.»
Er legte mir die Hand auf die Schulter: «Es braucht Ihnen gar nichts leid zu tun. Ihr Schweigen hat erschütternder gewirkt als eine lange Rede.»
Ich schüttelte den Kopf: «Ich bin betrübt, weil ich begriffen habe, daß ich nicht mit Ihnen arbeiten kann.»
«Warum nicht?»
«Nehmen wir an, ich sei zu müde dazu.»
«Das ist eine Redensart», rief er ungeduldig. «Was ist Ihr wahrer Grund?»
«Wozu?» sagte ich.
Fast zornig zuckte er die Achseln: «Fürchten Sie, mich zu überzeugen? Sie sind zu rücksichtsvoll.»
«Oh! Ich weiß wohl, daß Sie imstande wären, dem Teufel oder Gott die Stirn zu bieten», sagte ich.
«Dann erklären Sie sich.» Er lächelte. «Vielleicht werde ich vielmehr Sie überzeugen …»
Ich sah die Blumen in den Vasen vor mir, die gelbgestreifte Tapete; das Pendel schwang immer gleichmäßig hin und her.
«Ich glaube nicht an die Zukunft», sagte ich.
«Es wird eine Zukunft geben.»
«Aber Sie sprechen davon wie von einem Paradies. Sie wird keines sein.»
«Nein.»
Er sah mich prüfend an. Er schien auf meinem Gesicht nach den Worten zu suchen, die er mir sagen wollte.
«Was wir als Paradies beschreiben, ist der Augenblick, wo die Erwartungen, die wir jetzt hegen, einmal erfüllt sein werden. Wir wissen wohl, die Menschen werden dann neue Forderungen erheben …»
«Wie
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