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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Keller auf; Arbeiter, die im Gefängnis mit Ausbesserungen beschäftigt waren, teilten Armand mit, daß dieser unterirdische Raum auf einen benachbarten Garten ginge. Man beschloß, zu versuchen, einen Durchgang zu schaffen. Vor dem Tor stand eine Wache; ein Teil der Inhaftierten sollte durch ein Ballspiel im Hof ihre Aufmerksamkeit ablenken, während die andern am Werke waren: das Geräusch der Ausbesserungsarbeiten würde das unserer Hämmer übertönen. In sechs Tagen war die Grabung fast zu Ende geführt, nur eine ganz dünne Erdschicht trennte die Arbeitenden noch vom Licht. Spinelli, der dem Fischzug am 13.   April entgangen war, sollte im Laufe der Nacht bewaffnet und mit Leitern versehen kommen, die uns gestatten würden, die Gartenmauern zu übersteigen; 24   Häftlinge bereiteten sich darauf vor, auf diese Weise aus dem Gefängnis nach England zu entkommen. Aber einer von uns mußte jede Hoffnung auf Freiheit aufgeben und statt dessen den Wärter zurückhalten, wenn er die Runde machte.
    «Das übernehme ich», sagte ich.
    «Nein. Wir werden losen», sagte Armand.
    «Was sind 20   Jahre Gefängnis für mich?»
    «Darum handelt es sich nicht.»
    «Ich weiß», sagte ich. «Ihr glaubt, daß ich euch bessere Dienste erweisen kann als irgendein anderer: aber da täuscht ihr euch.»
    «Sie haben uns schon große Dienste erwiesen.»
    «Aber es ist nicht sicher, daß ich das weiterhin tue. Lassen Sie mich hier. Ich befinde mich wohl dabei.»
    Wir saßen uns in seiner Zelle gegenüber, und er blickte mich mit größerer Aufmerksamkeit an, als er es jemals während der letzten vier Jahre getan hatte. Heute schien es ihm angebracht, mich zu verstehen.
    «Warum dieses Erlahmen?»
    Ich lachte leise auf: «Das ist so allmählich gekommen. Sechshundert Jahre, wissen Sie   … Haben Sie einmal nachgedacht, wieviel Tage das sind?»
    Armand lachte nicht. «In sechshundert Jahren würde ich auch noch weiterkämpfen! Meinen Sie, daß es jetzt auf der Erde weniger zu tun gibt als einst?»
    «Gibt es denn wirklich etwas auf der Erde zu tun?»
    Diesmal lachte er: «Das will mir denn doch scheinen.»
    «Warum sehnen Sie so sehr die Freiheit herbei?»
    «Ich habe gern, wenn die Sonne strahlt», rief er begeistert aus. «Ich liebe die Ströme und das Meer. Können Sie sich damit abfinden, daß man die herrlichen Kräfte unterdrückt, die im Menschen ruhen?»
    «Und was soll er damit tun?» fragte ich.
    «Das ist ja ganz egal!» rief er aus. «Er soll damit tun, was er will. Nur frei machen muß man sie erst einmal.» Er beugte sich näher zu mir. «Die Menschen wollen frei sein: hören Sie nicht ihre Stimme?»
    Ich hörte
ihre
Stimme: «Bleibe ein Mensch.» In ihren Augen hatte auch dieser Glaube gestanden. Ich legte meine Hand leise auf Armands Arm.
    «Heute abend verstehe ich Sie», sagte ich. «Deswegen sage ich Ihnen: Nehmen Sie mein Angebot an. Es ist vielleicht der letzte Abend; jeder Abend kann der letzte sein. Heute abend möchte ich Ihnen dienen, aber vielleicht morgen schon habe ich nichts mehr zu bieten.»
    Armand schaute mich lange und durchdringend an; seine Züge verdunkelten sich; er schien mit einemmal etwas zu entdecken, was er nie vermutet hatte und was ihm Furcht einflößte.
    «Ich nehme an», sagte er.
     
    Auf dem Rücken liegend, liegend auf vereistem Lehmboden, auf den Latten des Fußbodens, auf einem Strand mit silbrigem Sand, blickte ich starr zur steinernen Decke empor, ich spürte die grauen Wände um mich, um mich das Meer, die Ebene, die grauen Wände des Horizonts. Jahre waren vergangen: nach den Jahrhunderten Jahre, die ebenso lang erschienen wie Jahrhunderte, ebenso kurz wie Stunden, und ich starrte zur Decke, ich rief: «Marianne»; sie hatte gesagt: «Du wirst mich vergessen»; den Jahrhunderten und den Stunden zum Trotz wollte ich sie mir lebendig erhalten; ich starrte zur Decke empor, und sekundenlang haftete ihr Bild auf dem Grund meiner Augen; immer das gleiche Bild: das blaue Kleid, die bloßen Schultern, jenes Porträt, das ihr nicht glich; ich versuchte es noch einmal: blitzartig regte sich etwas in mir, was fast ein Lächeln war, aber sofort erlosch. Wozu? Einbalsamiert in meinem Herzen, in der Tiefe dieser eiskalten Zelle, war sie so tot wie in ihrem Grab. Ich schloß die Augen, doch selbst im Traum konnte ich nicht mehr entrinnen; die Nebel, die Schatten, Ereignisse, Wandlungen hatten immer noch diesen abgestandenen Geschmack: den Geschmack meines Speichels, Geschmack auch meiner

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