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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mein Gesicht, meine Hände an: dann murmelte sie: «Armand hat mir gesagt   …»
    «Er hat Ihnen gesagt?»
    Ich stand auf, warf einen Blick in den Spiegel und lehnte meine Stirn an die Fensterscheibe. Die Straßenlaternen waren angezündet; in den Häusern setzten sie sich jetzt überall zu Tisch. Essen, schlafen, jahrhundertelang   …
    «Es muß anstrengend sein, wenn man wieder zu leben anfängt», sagte sie.
    Ich drehte mich nach ihr um und wiederholte die Worte, die ich ihr schon gesagt hatte: «Sorgen Sie sich nicht um mich.»
    «Ich sorge mich um alles und um alle», sagte sie. «Ich bin nun einmal so.» Sie ging auf die Tür zu. «Sie dürfen uns nicht böse sein.»
    «Ich bin Ihnen ja nicht böse. Ich hoffe, ich kann Ihnen noch von Nutzen sein.»
    «Aber kann denn niemand Ihnen von Nutzen sein?» fragte sie.
    «Vor allem», sagte ich, «darf man es nicht versuchen.»
     
    «Es wird eine aufsehenerregende Kundgebung werden», sagte Spinelli.
    Den Fuß auf einen Schemel gesetzt, bürstete er einen Schuh, der etwas abgenutzt war.
    Laure beugte sich über den Tisch, sie bügelte ein Herrenhemd. Sie murmelte: «Es gibt nichts Deprimierenderes als diese Bankette.»
    «Sie nützen», sagte Armand.
    «Wir wollen es hoffen», sagte sie.
    Armand schob auf der Marmorplatte des Kamins, in dem ein schwaches Feuer brannte, ein paar Papiere hin und her.
    «Wissen Sie ungefähr, was Sie sagen wollen?» fragte er.
    «So ungefähr», antwortete ich ohne Begeisterung.
    «Wie schade», sagte Spinelli, «daß ich nicht statt Ihrer reden kann. Ich fühle mich heute abend so dazu aufgelegt.»
    Laure lächelte: «Sie sind immer aufgelegt.»
    Lebhaft wendete er sich zu ihr: «War meine letzte Rede nicht gut?»
    «Das meine ich ja gerade: Ihre Reden sind immer wundervoll.»
    Im Kamin fiel ein Holzscheit in sich zusammen. Spinelli bürstete mit Macht seinen zweiten Schuh, in Laures Hand glitt das Eisen über das weiße Wäschestück, Armand las, und das Pendel der großen Wanduhr schlug friedlich aus: Tick-tack-tick-tack. Ich hörte es; ich spürte den Geruch des heißen Leinens, sah die Blumen, die Laure in den Vasen angeordnet hatte, Blumen, deren Namen mir einst Marianne genannt hatte. Ich sah jedes Möbelstück im Zimmer und die gelben Streifen der Tapete an der Wand; ich bemerkte jede Regung, die sich auf ihren Gesichtern zeigte, jede Schwankung in ihren Stimmen; ich hörte sogar die Worte heraus, die sie gar nicht sagten. Sie sprachen heiter miteinander, sie arbeiteten zusammen, und jeder von ihnen hätte sein Leben für den andern gegeben; dennoch spielte ein Drama sich unter ihnen ab. Immer gelang es ihnen, ihr Leben mit Dramen zu versehen   … Spinelli liebte Laure; sie liebte ihn nicht, sie liebte Armand, oder zum mindesten litt sie darunter, daß sie ihn nicht mehr liebte; Armand träumte von einer Frau, die fern von ihm lebte und für ihn nichts empfand. Ich wendete Eliane den Rücken, schaute zu Beatrice hin und dachte: Warum sieht sie Antonio mit solchen Augen an? Laures Hand glitt hin und her auf dem Wäschestück; eine ganz kleine Hand von einer Farbe wie mattes Elfenbein: Warum liebte Armand sie nicht? Sie war da, und sie liebte ihn: eine Frau, eine richtige Frau; auch die anderewar nur eine Frau. Und warum vermochte Laure nicht Spinelli zu lieben? Besteht denn ein solcher Unterschied zwischen Armand und ihm? Der eine dunkelbraun, der andere kastanienbraun; der eine ernst, der andere vergnügt; beide hatten Augen, die blickten, Lippen, die sich bewegten, Hände, die sich rührten   …
    Alle hatten solche Augen, solche Lippen und Hände; sie waren wenigstens zu hundert in dem Versammlungsraum, in dem der mit Flaschen und Speisen besetzte Tisch aufgestellt worden war; alle Augen blickten auf mich; manche unter ihnen hatten mich schon früher gekannt; sie klopften mir auf die Schulter, drückten mir die Hand und sagten lachend zu mir: «Du hast dich nicht verändert.» An Spinellis Bett hatten sie sich angesehen, und die Freude war wie eine Flammengarbe in ihren Herzen aufgestrahlt: ich hatte sie beneidet. Heute schauten sie auf mich, aber ihre Blicke glitten an mir ab: sie konnten aus meinem Herzen nicht einen Funken schlagen. Unter erstarrter Lava, unter Asche begraben, war der alte Vulkan erstorbener als die Krater des Mondes.
    Ich saß an ihrer Seite; sie aßen und tranken, ich aß und trank mit ihnen. Marianne lächelte ihnen zu, eine Frau sang zur Gitarre, man sang den Refrain im Chor: Bitte mitsingen; ich

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