Alle Menschen werden Schwestern
Würde ich aber über Frauen forschen, fände ich wohl kaum Anlaß zur Belustigung.
3.2 Der linguistische Begriff der Kompetenz als Modell für andere Kompetenzen:
Über patriarchalische und feministische Kompetenz
Es gefällt mir, auch als Feministin, mich wissenschaftlich geschützt auf nichts weiter als ein Gefühl berufen zu dürfen. Dieses Privileg habe ich, soviel ich weiß, anderen feministischen Wissenschaftlerinnen voraus.
Der theoretische Status der Sprachkompetenz in der Systemlinguistik legt zwingend Analogien nahe, die so aus der sozialwissenschaftlichen Theorie m. W. nicht abgeleitet werden können, für die feministische Theorie aber sehr interessant sind. Das Sprachgefühl (»Sprachkompetenz«) als internalisierter Regelapparat ist ein nützliches Denkmodell für andere Kompetenzen, die unser Alltagsverhalten steuern. Meine vierjährige Nichte z.B. besitzt bereits eine hervorragende patriarchalische Kompetenz bei der Beurteilung »richtigen« weiblichen und männlichen Verhaltens:
Wir spielten mit einem Auto und Plastikfiguren. Ich setzte eine Frau ans Steuer und einen Mann auf den Beifahrersitz. »Das geht nicht«, erklärte sie mir. »Der Mann muß ans Steuer und die Frau daneben .« [Ihre Mutter fährt Auto und nimmt sie oft mit. Ist meine Nichte aber mit beiden Eltern unterwegs, fährt meist der Vater.] Genauso strikt entschied sie, daß ich den Pullover meines Bruders nicht anziehen könnte: »Das ist ein Männerpullover !« Beide Male fragte ich sie nach dem Warum — da lachte sie mich nur aus. Es war doch alles klar — wie konnte ich nur so dumm fragen!
Genauso strikt hätte wahrscheinlich ihr Sprachgefühl reagiert, wenn ich leichthin gesagt hätte: »Mama und Papa sind aber tolle Autofahrerinnen !«
Die muttersprachliche Kompetenz sichert unser kommunikatives Funktionieren in unserer Sprachgemeinschaft. Die patriarchalische Kompetenz sichert unser Funktionieren im Patriarchat. Wenn wir über diese bewußtlosen Kompetenzen hinausgelangen wollen, brauchen wir linguistisches bzw. feministisches Training. Dieses Training sollte uns in die Lage versetzen, die Regeln, die wir gedankenlos — und deshalb auch so reibungslos — befolgen, gezielt zu verletzen, sie dadurch in ihrer Vernetzung bewußtzumachen und wenn nötig zu verändern.
Wie jede Linguistin weiß, wird die normalerweise störungsfrei funktionierende muttersprachliche Kompetenz durch linguistische Reflexion schnell irritiert: Die Grammatikalitätsurteile werden unsicher (frau denke nur an die berühmte Tausendfüßlerin, die kein Beinchen mehr bewegen konnte, als sie sagen sollte, wie sie die Beinchen koordiniert). — Unter fremdsprachlichem Einfluß kann die muttersprachliche Kompetenz auch weitgehend verlorengehen: Nach langem Auslandsaufenthalt sprechen viele ihre Muttersprache nur noch gebrochen (z. B. Emigrantinnen).
Für die patriarchalische Kompetenz, die wir mitsamt unserer muttersprachlichen im frühen Kindesalter einprogrammiert bekommen, bedeutet das: Auch sie kann, wie die meisten von uns in den vergangenen fünfzehn Jahren Frauenbewegung erlebt haben, durch Reflexion erheblich irritiert werden. Ein feministisches Ausland zum gänzlichen Verlernen gibt es allerdings nicht...
Es bleibt uns daher nur der Weg, die geeigneten Regelverletzungen zu erfinden und zur Regel zu machen.
Als Linguistin weiß ich, daß es noch schier endloser linguistischer Arbeit bedarf, bis wir wissen, wie das sprachliche Regelsystem funktioniert, das wir »beherrschen«, ohne zu wissen, was wir da beherrschen — und das deshalb uns beherrscht. — Der Vergleich des sprachlichen Systems mit dem patriarchalischen System könnte mich fast mutlos machen.
Aber zum Glück gibt es viel mehr Feministinnen als LinguistInnen.
1983
Männersprache — Sprache des Großen Bruders?
Vortrag anläßlich der Universitätswoche Düsseldorf, 13./20. Juni 1984. Thema: Orwell 1984
1 Präludium
Zu diesem Vortrag bin ich vom ASTA-Frauenreferat der Uni Düsseldorf eingeladen worden, »damit der Frauen-Aspekt bei dieser Mammut-Prestige-Unternehmung nicht ganz außen vor bleibt« (oder so ähnlich — genau erinnere ich mich nicht mehr an die Formulierung am Telefon).
Das Programm der Universitätswoche beginnt, so steht es in den mir zugeschickten Unterlagen, mit einer Podiumsdiskussion zum Thema »Dürfen wir, was wir können? Die künstliche Befruchtung — Anspruch, Möglichkeiten, Zweifel« mit, so lese ich da:
Prof. Dr. Mitscherlich
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