Alle Menschen werden Schwestern
Freundinnen aufklären, bevor sie mit ihnen schliefen«.
Obwohl dies deprimierende Beispiel dagegen zu sprechen scheint — durch Aids hat sich bereits viel geändert. Erstmals haben Frauen über Sexualität und Sexualpraktiken »ein Wörtchen mitzureden«, weil der Aidstod, anders als früher der mögliche Tod im Kindbett, beim besten Willen vom Mann nicht mehr als »naturgewollt« verbrämt werden kann. Außerdem fällt Aids zeitlich zusammen mit einer starken internationalen feministischen Bewegung, die ihren Teil der Aufklärung leistet und leisten wird 105 — so wie die Gesundheitspolitik ihren Teil zur Abänderung des Konzepts »ansteckend« leistet.
6 Die Begriffe »Trieb« und »Treue«
Und schon die bloße Vorstellung nimmt einem den Atem, wie die Krankheit Aids die beiden stärksten Lebensmächte im Menschen, den Selbsterhaltungswillen und den Sexualtrieb, feindlich gegeneinanderstellt, aufeinander losläßt. 106
Wer treu lebt, ist nicht gefährdet. (Süssmuth) 107
Gibt es das überhaupt, den »Sexualtrieb«, und wenn ja — ist er wirklich eine der »beiden stärksten Lebensmächte im Menschen«? Oder ist er bloß eine praktische Erfindung der Männer, um ihre sexuellen Wünsche als quasi biologisch fundierte Ansprüche durchzusetzen, ihre Sexualverbrechen zu verharmlosen und ihre Doppelmoral zu rechtfertigen? Treue wurde jahrhundertelang nur dem weiblichen Geschlecht abverlangt — der Mann hatte da ja seinen Trieb, der ihn immer mal wieder unbezwinglich überkam. Deshalb mußte er vor der Ehe »Erfahrungen sammeln«, sich Mätressen, Konkubinen oder gleich mehrere Ehefrauen halten und überdies regelmäßig »Freudenmädchen« im »Freudenhaus« aufsuchen — welche Freude für die »Mädchen«. Von Frauen habe ich das Wort Sexualtrieb noch nie gehört außer in bezug auf Männer. Auf uns wirkt sich das Treiben des »Triebs« eher wie folgt aus:
Du wurdest doch früher gleich derart in die Enge getrieben, daß du gar nicht darauf kamst, dich zu fragen, will ich überhaupt? (24jährige, unverheiratete Sekretärin) 108
Die Triebrhetorik und -metaphorik, ein raffiniert geknüpftes, weitverzweigtes Begriffsnetz, ist sicher die für Frauen gefährlichste Unterabteilung innerhalb des gesamten von Männern geschaffenen Sexualitätsdiskurses. Wir haben oben am Beispiel der Spiegel-Autorin Barth gesehen, wie eine Frau dieser Metaphorik »aufsitzt«, indem sie sexuellen »Appetit« von Knaben (!) mit Hunger gleichsetzt und die Mädchen — per Implikation — mit »Nahrung«. Der Nahrung kann es ja egal sein, wenn sie »vertilgt« wird. Und genauso viele Gedanken wie auf fühllose Nahrung verschwendet Barth denn auch auf die potentiellen Todesopfer des knäbischen »Hungers«.
Es würde zu weit führen, hier die mindestens ein Jahrhundert alte Geschichte des Kampfes der Frauenbewegung gegen den Mythos vom männlichen Sexualtrieb aufzurollen — ich empfehle Interessentinnen dringend die Lektüre von Jeffreys (1985). Daß dieser Trieb bloß ein Mythos ist, werden Männer natürlich nicht zugeben; es knüpfen sich daran zu viele Privilegien. Und so sind denn auch ihre Texte über Aids »durchseucht« mit Triebmetaphorik und allem, was dazugehört:
[...] das Ungetüm des erregten Triebs, das alle guten Vorsätze (Kondombenutzung eingeschlossen) zunichte macht. 109
Leisten die Deutschen, die Westeuropäer, die Amerikaner Triebverzicht, um eine menschenmordende Epidemie zu bannen — oder gibt es, unabhängig von Aids, auch andere Ursachen und Bedürfnisse, die das Sexualverhalten in Richtung auf eine »neue Prüderie« hin verändern? 110
Werden so die Frauen, eben erst halbwegs befreit, wieder zu Hüterinnen einer strengen Geschlechtsmoral? 111
Die Frau, deren »Trieb« noch nicht so »befreit« ist, wie der Mann es neuerdings gerne hätte, gilt als »prüde« und »frigide«. Die Begriffe »frigide« und »impotent« werden gemeinhin als Gegensatzpaar behandelt — dabei wird übersehen, daß der impotente Mann zwar will, aber nicht kann, während die »frigide« Frau in der Regel gar nicht will. 112 Für den Begriff »frigide« gibt es kein männliches Pendant. Ein Mann, der keinen Geschlechtsverkehr will, gilt nicht als psychisch defekt, sondern er übt seinen freien Willen aus. Diejenige gefährdetFrau hinwiederum, die »zu oft will«, gilt als »nymphoman« und ebenfalls therapiebedürftig. Für diesen Begriff gibt es natürlich erst recht kein männliches Gegenstück in unserer
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