Alle sieben Wellen
liebe Emmi: Wenn du definitiv ENDE sagst (wie zuletzt vor sechzehn Wochen, am Tag danach, du wirst dich vielleicht noch erinnern können, am Tag wonach), was meinst du damit?
a.) ENDE?
b.) ENDE?
c.) ENDE?
d.) ENDE?
Und warum hältst du dich weder an a.) noch an b.) noch an c.) noch an d.)?
30 Minuten später
RE:
1.) Weil ich gerne schreibe.
2.) Okay: Weil ich DIR gerne schreibe.
3.) Weil meine Therapeutin sagt, dass es mir guttut, und die muss es ja wissen, die hat es studiert.
4.) Weil ich neugierig war, wie lange du es aushalten würdest, mir nicht zu antworten.
5.) Weil ich noch neugieriger war, wie die Antwort ausfallen würde. (Zugegeben: Auf »c« wäre ich nie gekommen.)
6.) Weil ich noch neugieriger war und bin, wie es dir geht.
7.) Weil solche nach außen gerichteten Neugierden dem Raumklima hier guttun, dem Klima in meiner sterilen, kahlen, winzigen neuen Wohnung mit dem stummen Piano und den nackten Wänden, die mir ständig ratlose Fragezeichen ins Gesicht schleudern. Eine Wohnung, die mich mit einem Schlag fünfzehn Jahre zurückgeworfen hat, ohne mich deswegen fünfzehn Jahre jünger zu machen. Jetzt stehe ich mit meinen fünfunddreißig wieder unten, im Treppenhaus einer Zwanzigjährigen. Jetzt heißt es die vielen Stufen nochmals zu steigen.
8.) Wo waren wir? Ach ja, beim »Ende«, warum ich mich nicht an »Ende« halte, wenn ich »Ende« sage: Weil ich manche Dinge heute ein bisschen anders sehe als vor sechzehn Wochen, weniger endgültig.
9.) Weil eben Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende ist, Leo. Weil jedes Ende letzten Endes auch ein Anfang ist.
Schönen Abend noch. Und danke, dass du geschrieben hast! Emmi.
Zehn Minuten später
AW:
Du bist ausgezogen, Emmi? Hast du dich von Bernhard getrennt?
Zwei Stunden später
RE:
Ich bin umgezogen, habe mich ein Stück zurückgezogen. Ich bin zu Bernhard auf Distanz gegangen. Jetzt haben wir ungefähr den Abstand zueinander, der unserer Beziehung der vergangenen zwei Jahre entspricht. Ich bemühe mich, die Kinder nicht darunter leiden zu lassen. Ich will weiter für sie da sein, wann immer sie mich brauchen. Für Jonas ist die neue Situation schlimm. Du solltest seinen Blick sehen, wenn er mich fragt: »Warum schläfst du nicht mehr zu Hause?« Ich erwidere: »Papa und ich verstehen uns momentan nicht sehr gut.« Jonas: »Aber in der Nacht ist das doch egal.« Ich: »Nicht, wenn man nur durch eine dünne Wand getrennt ist.« Jonas: »Dann tauschen wir zwei eben Schlafzimmer. Mich stört eine dünne Wand zum Papa überhaupt nicht.« – Was sagt man darauf?
Bernhard sieht seine Fehler und Versäumnisse ein. Er schämt sich. Er ist zerknirscht, niedergeschlagen, völlig fertig. Er versucht zu retten, was noch zu retten ist. Ich versuche zu erkennen, ob es noch etwas zu retten gibt. Wir haben viel geredet in den letzten Monaten, leider um einige Jahre zu spät. Wir haben erstmals hinter die Fassade unserer Beziehung geblickt: alles modrig und desolat. Nie daran gearbeitet, nie sauber gemacht, nie gelüftet, alles verkommen, schwerer Schaden. Ob sich das je wieder gutmachen lässt?
Wir haben auch viel über dich geredet, Leo. Aber das erzähle ich dir nur, wenn du es wissen willst. – (Da du es natürlich wissen willst, bleiben wir in E-Mail-Kontakt. Das ist mein Plan!) Ich will dich nicht belästigen, aber meine Therapeutin ist eben überzeugt davon, dass du mir guttust. Sie sagt: »Ich verstehe gar nicht, warum Sie bei mir so teure Stunden nehmen. Bei Ihrem Leo Leike kriegen Sie das alles gratis. Also bemühen Sie sich gefälligst um ihn!« Also bemühe ich mich gefälligst um dich, lieber Leo. Und du bist herzlich eingeladen, dich ein bisschen um mich zurückzubemühen. Gute Nacht.
Am nächsten Abend
Kein Betreff
Liebe Emmi, es ehrt mich, dass mir deine Psychotherapeutin zutraut, sie ersetzen zu können. (»Gratis« wäre freilich zu billig, aber ich würde dir einen guten Preis machen.) Und ich freue mich natürlich, dass sie jedenfalls überzeugt ist, dass ich dir guttue. Doch sei bitte so freundlich und frage sie, ob sie mir denn auch versichern könne, dass DU mir guttust.
Alles Liebe, Leo.
Eine Stunde später
RE:
Sie denkt nur an mein Wohl, nicht an deines, lieber Leo. Wenn du nicht weißt, was gut für dich ist, und wenn du es wissen willst, musst du dir einen eigenen Therapeuten nehmen. Würde ich dir übrigens sehr ans Herz legen, wird dir aber wohl zu aufwändig
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