Alle sieben Wellen
etwa in London oder wie auch immer die Kulisse hieß. Nun aber ändern sich mit den geografischen auch die liebesproportionalen Verhältnisse. Sie kommt zu dir und bleibt bei dir. Fernbeziehung wird Nahbeziehung. Das bedeutet: zwischenmenschlicher Alltag innerhalb der eigenen vier Wände statt Vollpension im Romantikhotel. Fenster putzen und gewaschene Vorhänge aufhängen, statt sehnsüchtig hinaus in die Weite der Wunschlandschaften zu starren. Sie kommt übrigens nicht nur zu dir. Sie kommt wegen dir. Sie kommt für dich. Sie setzt auf dich. Du übernimmst Verantwortung. Dieser Gedanke stresst dich natürlich. Du hast Angst vor der Ungewissheit, ein flaues Gefühl, dass zwischen euch plötzlich alles anders sein könnte. Deine Unruhe ist verständlich und berechtigt, Leo. Du kannst momentan gar nicht deine »beste Phase« haben. Was wäre dann von der darauffolgenden Phase, von dem auf dich zukommenden Lebensabschnitt zu halten? Ich bin überzeugt: Ihr werdet das Kind schon schaukeln! Alles Liebe, schönen Abend, Emmi.
Sieben Stunden später
Betreff: Du Tagebuch
Hallo Emmi, du wirst bereits schlafen. Es ist zwei oder drei, schätze ich. Ich trinke momentan überhaupt keinen Alkohol, deshalb vertrage ich ihn nicht. Das ist erst mein drittes Glas und ich sehe alles verschwommen. Okay, es ist ein großes Glas, das gebe ich schon zu. Der Wein hat 13,5 Volumprozent, steht auf dem Etikett, die sind bereits in meinem Kopf, die restlichen sechsundachtzig oder siebenundachtzig Prozent sind noch in der Flasche. Die trinke ich jetzt, da ist kein Alkohol mehr drinnen. Alles in meinem Kopf. Es ist aber schon die zweite Flasche, das gebe ich zu.
Du, Emmi, ich muss dir etwas verraten, du bist die einzige Frau, der ich schreibe, der ich so schreibe, wie ich schreibe, wie ich bin, wonach mir ist. Du bist eigentlich mein Tagebuch, aber du hältst nicht still wie ein Tagebuch. Du bist nicht so geduldig. Du mischt dich immer ein, du konterst, du widersprichst mir, du verwirrst mich. Du bist ein Tagebuch mit Gesicht und Körper und Figur. Du glaubst, ich sehe dich nicht, du glaubst, ich spüre dich nicht. Irrtum. Irrtum. So ein Irrtum. Schreibe ich dir, dann hole ich dich ganz nah an mich heran. Das war schon immer so. Und seit ich dich »persönlich« kenne, du weißt schon, seit wir uns gegenübergesessen sind, seither, zum Glück hat mir niemand den Puls gemessen, seither ..., das habe ich dir nie gesagt, das wollte ich dir nicht sagen, wozu auch? Du bist verheiratet, er liebt dich. Er hat einen schweren Fehler begangen, er hat geschwiegen. Eigentlich der schwerste Fehler. Aber du musst ihm verzeihen. Du gehörst zu deiner Familie, das sage ich nicht, weil ich ein wertkonservativer Mensch bin, denn ich bin gar kein wertkonservativer Mensch, vielleicht ein bisschen wertkonservativ, aber nicht konservativ, das bin ich nicht. Wo waren wir? Emmi, ja, genau, du gehörst zu deiner Familie, weil du eben zu ihr gehörst, zur Familie. Und ich gehöre zu Pamela, oder sie zu mir, ganz egal. Nein, nein, ich schicke dir kein Foto von ihr. Das schaffeich nicht, das ist mir zu (...), da stelle ich sie zu sehr in die Auslage, verstehst du mich, warum soll ich das tun? Emmi, sie ist anders als du, aber sie liebt mich, und wir haben uns entschieden, wir werden glücklich sein, wir passen gut zusammen, wir haben eine Zukunft, das kannst du mir glauben. Darf ich dir das schreiben? Bist du mir böse?
Emmi, du und ich, wir beide hätten längst aufhören müssen. So kann man nicht Tagebuch führen, das hält keiner aus. Du schaust mich immer an – du würdest schreiben, du schaust mich immer so, so, so an. Und ich sehe dich, wie du mich anschaust, wenn du so, so, so sagst, da kann ich sagen, was ich will, da kann ich schweigen, wie lange ich will, du schaust mich an mit deinen Augen/Worten. Jeder Buchstabe von dir blinzelt mir zu, so, so, so, einmal so, einmal so, einmal so. Jede Silbe hat deinen Blick.
Emmi, Emmi, das war ein schlechter Winter. Keine frohen Weihnachten und kein gutes neues Jahr von keiner Emmi Rothner. Ich dachte wirklich, es ist vorbei. Du hast ENDE geschrieben nach dieser Nacht. Diese Nacht und dann noch ENDE, nicht Ende, sondern ENDE, das war zu viel. Ich habe dich abgeschrieben. Da ist alles verschwunden, da war nichts mehr vorhanden. Kein Tagebuch. Kein Tag. Das war eine scheußlich leere Zeit, das kannst du mir glauben. Aber Pamela liebt mich, da bin ich sicher.
Emmi, ich frage dich, erinnerst du dich an diese Nacht?
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