Alle Singen Im Chor
ich als Erstes sprechen. Vielleicht war sie schon zu Hause.
Ich tauschte die Trauerkleidung gegen Jeans und Tennisschuhe und packte mein Tonbandgerät und einige Papiere aus Jukkas Schublade ein. Obwohl es nach Lintuvaara ziemlich weit war, wollte ich nicht vorher bei Mirja anrufen und mich vergewissern, dass sie zu Hause war. Überraschung war die beste Taktik. Ich ging zur Bushaltestelle an der Mannerheimintie und grübelte unterwegs darüber nach, vor wem Antti mich eigentlich warnen wollte. Etwa vor sich selbst?
Zehn
Weshalb Menschenseele sollt bestehen?
Mirja war zu Hause. Offensichtlich war sie gerade erst gekommen, denn sie hatte sich noch nicht umgezogen. Sie hielt einen angebissenen Apfel in der Hand.
«Muss ich dich reinlassen?», fragte sie unfreundlich.
«Keineswegs. Wir können auch nach Pasila fahren.»
Wortlos trat sie beiseite und ließ mich herein. Ich zog meine Jeansjacke aus und hängte sie an den überfüllten Garderobenständer.
In der Wohnung war es still, Mirjas Mitbewohnerinnen verbrachten den Samstagabend sicher in der Stadt. Auf der Telefonkonsole lag eine Liste der turnusmäßigen Putztage. Bestimmt achtete Mirja streng darauf, dass sich alle daran hielten.
«Gehen wir in mein Zimmer.» Ich folgte ihr in die obere Etage, wo sich eine hübsche Küche und zwei kleine Zimmer befanden. Das dominierende Möbelstück in Mirjas Zimmer war ein Klavier. Auf dem Bett lag eine weiße Tagesdecke aus Häkelspitze, im Bücherregal standen hauptsächlich Geschichtsbücher. Auf dem Sessel sah ich einen halb fertigen knallroten Pullover. Ich fragte mich, ob Mirja den wohl für sich selbst strickte. Bisher hatte ich sie nur in dunkler Kleidung gesehen. Wie viele rundliche Frauen glaubte sie offenbar, dunkle Farben machten schlank. Vielleicht hatte sie vor, ihren Stil zu ändern. Mirja hob das Strickzeug hoch und bot mir den Sessel an. Sie selbst setzte sich mit ihrem Strickzeug aufs Bett und fing an, mit den Nadeln zu klappern. Das Geräusch machte mich nervös.
«Wie offiziell ist diese Vernehmung?»
«Inoffiziell ist sie offiziell», sagte ich und schaltete das Tonbandgerät ein. Sollte Mirja etwas wirklich Aufschlussreiches sagen, würde ich unser Gespräch in Pasila wiederholen müssen. Aber darüber konnte ich mir dann immer noch den Kopf zerbrechen.
«Wir haben jetzt zweimal miteinander gesprochen, aber bisher hast du mir eine ganz wesentliche Information über deine Beziehung zu Jukka vorenthalten. Er hat letztes Frühjahr deine Abtreibung in der Frauenklinik bezahlt. Offensichtlich, weil er der Vater des Kindes war. Oder?»
Ich hatte unter Jukkas Belegen eine Quittung der Frauenklinik gefunden. Der Name der Patientin war nicht angegeben, wohl aber ein Datum im Frühjahr letzten Jahres. In Jukkas altem Kalender stand für den Vortag die Eintragung M. FKL 18-19, und auf einer der letzten Seiten hatte ich die Telefonnummer der Abtreibungsstation gefunden. Dass Antti in seinem Brief von Jukkas «Spiel» mit Mirja gesprochen hatte, passte zu meiner Theorie.
Mirjas Augen sprühten vor Hass. Ich hatte fraglos ins Schwarze getroffen.
«Na klar, das musstest du natürlich ausgraben. Wie vielen hast du schon davon erzählt? Ich dachte, Krankenhäuser unterliegen der Schweigepflicht!»
«Unter Jukkas Papieren hab ich die Kopie einer Quittung über den Pflegesatz der Klinik gefunden.»
«Dass Jukka bezahlt hat, heißt doch noch lange nicht, dass er der Vater war.»
«Warst du denn so gut mit ihm befreundet, dass du ihm von der Abtreibung erzählt und dir das Geld dafür von ihm geliehen hast, während du mit keinem anderen darüber gesprochen hast?»
Mirja knüllte das rote Pulloverteil zusammen und schleuderte es wütend in die Ecke. Ihre Hände zitterten. Neben ihrem Kopf, gleich über dem Bett, hing ein großes Foto von einem der Auftritte des IOL-Doppelquartetts: Mirja, Jukka, Antti, Tuulia und ein paar andere in potthässlichen blauen Chorgewändern. Vielleicht wollte Mirja jeden Abend vor dem Einschlafen Anttis Bild anschauen. Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, Arbeit würde mir über meine trübselige Stimmung hinweghelfen?
«Weißt du, ich hab sogar schon eine Theorie, wie das alles gelaufen ist. Euer Chor hat wieder mal eine Party gefeiert, das tut ihr ja andauernd. Du hast dich geärgert, weil Antti dich links liegen ließ» – an dieser Stelle hätte mich beinahe der Mut verlassen, denn das ging mich nun wirklich nichts an –, «und Jukka war
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