Alle Singen Im Chor
sie den Sommer über wohnte. Am Imbissstand neben der Bushaltestelle hatte sie sich noch einen Hamburger gekauft.
«Der Mann hat vor mir in der Schlange gestanden … Vielleicht war er mit dem gleichen Bus gekommen. Er hat mich angequatscht, aber ich war müde, ich wollte schlafen … Dann hat er mir an den Hintern gegrapscht und gesagt, was für ein hübscher Minirock. Ich hab gesagt, Finger weg, und da is er dann auch abgehauen. Ich bin mit meinem Hamburger quer durch den Park gegangen und hab überhaupt nich mehr an den Kerl gedacht. Da sprang er auf einmal aus dem Gebüsch und hat gefragt, ob er mitkommen kann. Ich hab ihm gesagt, er soll abhauen, aber er is die ganze Zeit neben mir hergelaufen und hat mich beschimpft, ich wäre ’ne … Hure, so wie ich ausseh, im Minirock und mit den Ohrringen. Dann hat er mich gepackt und gesagt, er bringt mich um, wenn ich ihn nicht … drüberlasse.» Sie schluckte heftig und warf einen erschrockenen Blick auf den hünenhaften Polizisten, der eine Tasse Tee und ein schrumpliges Wurstbrötchen vor sie hinstellte.
«Tu reichlich Zucker in deinen Tee», riet ich ihr und trank einen Schluck von meinem. Gehorsam rührte sie vier Würfel hinein, probierte, verzog das Gesicht und erzählte weiter:
«Er hat mich gegen einen Baum gepresst und meinen Rock hochgezogen und seinen Hosenschlitz aufgemacht. Da hab ich überhaupt erst richtig begriffen, was passiert, und hab geschrien. Da waren doch Leute an dem Imbissstand gewesen. Er hat versucht, mich zu würgen, und hat seinen … also sich in … und hat versucht, mich festzuhalten, und ich glaub, ich hab ihn ins Kinn gebissen. Aber es is keiner gekommen … und da hat er dann das … getan, was er wollte, obwohl ich geschrien hab und mich gewehrt, aber dann war die Sirene zu hören von der Polizei … Der Würstchenverkäufer hat die wohl alarmiert. Und die haben ihn dann geschnappt, er war auf einen Baum geklettert, und sein einer Schuh lag unter dem Baum …» Das Mädchen fing an, hysterisch zu lachen. Sie zitterte vor Kälte, ich gab ihr meine Jeansjacke.
«Ja, der Kerl sitzt bei uns in der Zelle.» Unter den Papieren aus der Voruntersuchung, die auf meinem Tisch lagen, war auch das Strafregister des Täters. Zwei Vorstrafen, beide wegen Vergewaltigung. Beim ersten Mal eine Geldbuße, dann Freiheitsentzug mit Bewährung. «Der Fall ist völlig klar, du brauchst den Mann nicht mal zu identifizieren. Das ärztliche Gutachten bekommen wir später. Vergewaltigung ist ein Antragsdelikt, das heißt, es liegt bei dir, ob du Anzeige erstattest. Das brauchst du nicht jetzt zu entscheiden», sagte ich schnell, als ich ihren erschrockenen Blick sah. «Bestimmt möchtest du das Ganze am liebsten so schnell wie möglich vergessen, aber ich würde dir raten, Anzeige zu erstatten, wenn du dich ein bisschen erholt hast. Du bist nicht das erste Opfer von dem Kerl. Diesmal reicht es vielleicht für eine Gefängnisstrafe.»
«Muss ich dann vor Gericht? Und muss ich einen Anwalt bezahlen?» Ich erklärte ihr das Gerichtsverfahren, obwohl ich mir nicht sicher war, wie viel sie überhaupt aufnahm. Sie wirkte verängstigt, müde und sehr jung. Ich sah mich selbst als Achtzehnjährige vor mir. Wäre ich damals mit einer Vergewaltigung fertig geworden, ohne durchzudrehen?
«Weil nämlich … ich will nicht, dass meine Eltern davon erfahren … Die würden mich ja doch bloß anbrüllen, warum musst du dich auch in Kneipen rumtreiben und solche Fummel anziehen …» Marianna wischte sich eine Träne von der Backe, auf der der blaue Fleck prangte, und zuckte vor Schmerz zusammen.
«Jetzt hör mir gut zu, Marianna. Das letzte Mal, als ich eine Vergewaltigung untersucht habe, war das Opfer eine sechzigjährige Frau, die von einer Versammlung der Salemgemeinde kam. Diese Kerle gucken nicht auf die Kleidung oder sonst was. Außerdem, selbst wenn du stockbesoffen und splitternackt durch die Straßen läufst, hat keiner das Recht, dich zu vergewaltigen!
Hast du irgendjemanden, damit du heute nicht allein bist? Eine Freundin vielleicht? Ich könnte dich jetzt nach Hause fahren, falls ich einen Wagen kriege.»
«Vielleicht meine älteste Schwester … Die hält mir sicher keine Predigten.»
Ich ließ Marianna von meinem Apparat aus anrufen und brachte sie dann im klapprigsten Lada, den die Polizei besaß, nach Hause.
«Du hast dich tapfer gehalten. Prima, dass du geschrien und dich gewehrt hast. Und dass du dann auch noch die ärztliche Untersuchung und
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