Alle Singen Im Chor
vieles, unter anderem Timos gehobene Wohnverhältnisse. Vielleicht konnte sogar ein Gestell wie er ein passabler Mann sein, wenn er nur ordentlich vergoldet war?
«Wenn Timo Sirkku anbetet, war er doch sicher eifersüchtig auf Jukka?»
«Na ja, er wird ganz rot im Gesicht, wenn wir uns Fotos von der Deutschlandreise anschauen, auf denen Jukka und Sirkku sich umarmen. Überhaupt konnte er Jukka nicht leiden. Aber wenn du meinst, dass er ihn deswegen umgebracht hätte, also, das glaube ich nicht.»
Das glaubte ich allerdings auch nicht. Timo dürfte andere Motive gehabt haben.
«Ich hab übrigens heute auf dem Boot angerufen … auf der ‹Marlboro of Finland›. Die Peltonens hatten heute früh mit Jarmo telefoniert und ihm von Jukka erzählt. Hoffentlich verdirbt ihnen das nicht den Wettkampf. Bisher liegen sie in ihrer Bootsklasse noch in Führung.»
Ich hatte das Gefühl, dass Piia mich nicht gehen lassen wollte. Mit meinen Fragen war ich längst fertig, aber sie schnatterte unermüdlich über dies und jenes. Vielleicht war es ihr unheimlich ganz allein in dem großen Haus. Ich fragte mich, ob meine Verdächtigen außerhalb des Chors überhaupt Freunde hatten.
Es war schon zehn, als ich nach einem Abstecher zu McDonald’s nach Hause kam. Das fette Essen machte müde, ich schlief mitten im Fernsehkrimi auf meinem Bett ein und träumte unruhig.
Elf
Doch süß ist es zu hegen den wunderselgen Traum
Meine Hoffnung auf einen langen, faulen Sonntagmorgen, auf ausgiebiges Kaffeetrinken und Zeitunglesen, fuhr dahin, als kurz vor sechs das Telefon klingelte. Ich sollte einen Vergewaltiger und sein Opfer vernehmen. Also stürzte ich meinen Kaffee herunter, verschlang einen halben Becher Joghurt und eine Apfelsine, schmierte mir in der Eile wasserfeste Wimperntusche auf den Nasenflügel und brauchte eine Ewigkeit, um sie wieder abzureiben. Hätte ich doch eine verständnisvolle Ehefrau, die ein gebügeltes Hemd und ein Stullenpaket für mich bereithielt. Stattdessen musste ich wieder die enge Bluse anziehen, die unter den Armen schon muffelte, und konnte nur hoffen, zwischendurch ein labberiges Brötchen aus dem Automaten oder eine längst kalt gewordene Kurierpizza zu bekommen.
Koivu, der seit mehr als 24 Stunden auf den Beinen war, berichtete mir in groben Zügen, worum es ging. Er war bis vier Uhr im Tanzlokal «Kaivohuone» gewesen und von dort direkt aufs Präsidium gefahren – «Ich hab nämlich was rausgefunden, was ich sofort protokollieren wollte, wir können gleich noch darüber reden» –, wo er dann gleich anfangen musste, die Vergewaltigung zu untersuchen.
Koivu sah weder jung noch besonders frisch aus, war aber ganz offensichtlich mit sich zufrieden. Trotz meiner Morgenstarre wurde ich neugierig. Er sagte, der Bericht sei fertig und liege auf meinem Tisch. Das vergewaltigte Mädchen hatte gerade die ärztliche Untersuchung hinter sich gebracht und wartete auf dem Gang auf mich, also schickte ich Koivu erst mal zum Ausschlafen nach Hause. Er versprach, mich am Nachmittag anzurufen.
Das Opfer, Marianna, war noch jung, gerade achtzehn.
«Kann ich nich endlich nach Hause?», fragte sie. Sie kämpfte mit den Tränen. Ihre glänzende schwarze Strumpfhose war zerrissen, der Minirock schmutzig, und im Gesicht waren noch Reste von Make-up zu sehen, obwohl sie offensichtlich versucht hatte, es abzuwaschen. An der einen Wange hatte sie einen großen blauen Fleck, am Auge einen zweiten. Sie schien zu frieren. Ich machte mir klar, dass auch sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Da ich niemanden zum Mitschreiben hatte, knipste ich das Diktiergerät ein. Irgendwer konnte die Aufnahme später ins Reine schreiben.
«Ich bin Kriminalhauptmeister Maria Kallio. Lass uns das hier zügig erledigen, dann kannst du gehen. Möchtest du Kaffee und vielleicht ein Butterbrot?»
«Gibt’s auch Tee?», wisperte das Mädchen so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Hoffentlich war der Polizeiarzt so vernünftig gewesen, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.
Ich bat den Dienst habenden Beamten, Tee und belegte Brötchen zu bringen. Inzwischen nahm ich die Personalien des Mädchens auf und versuchte dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen. Marianna kam aus Kouvola, wo sie nach den Ferien in die letzte Klasse des Gymnasiums gehen sollte. Sie hatte einen Ferienjob in Helsinki, auf dem Friedhof Hietaniemi. Am Abend war sie tanzen gegangen und mit dem letzten Bus nach Vallila zurückgefahren, wo
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