Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
mir auf, daß oben auf dem FDP-Häufchen einer abgelegt worden war, der nicht gültig sein konnte, weil der Wähler weiter unten in der Zweitstimmenspalte außerdem noch die rechtsextremistische NPD angekreuzt hatte.
»Oh, vielen Dank«, sagte einer der Wahlhelfer und sortierte diesen Stimmzettel aus. Der kam auf das noch kleinere Häufchen mit ungültigen Stimmen von Wählern, die Hakenkreuze aufs Papier gekrakelt oder alles durchgestrichen hatten.
Eine der zur Wahl stehenden Parteien hieß AUD (»Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher«). Wer die wohl gegründet hatte? Und mit welchen Hoffnungen? Da konnte doch nie was draus werden.
Vor den Splitterparteien brauche man sich nicht zu fürchten, meinte Gustav. »Bonn ist nicht Weimar!« Von denen werde keine auf einen grünen Zweig kommen.
Danach begaben wir uns wieder vor den Fernseher. Der nervtötend näselnde Reporter Ernst-Dieter Lueg fragte Willy Brandt, wie die SPD die Probleme jugendlicher Wähler zu lösen gedenke, und Brandt erwiderte, er könne sich jetzt nicht »bei Petitessen aufhalten«.
Petitessen? Das Wort hatte ich noch nie gehört. Es stand auch weder in Opas Duden noch in Gustavs Fremdwörterlexikon.
Alles in allem hatten die Koalitionsparteien zwar viele Zweitstimmen verloren, aber nicht genug für einen Regierungswechsel. Da konnte Helmut Kohl noch so trotzig blaffen: »Ich will Bundeskanzler werden!«
Franz-Josef Strauß war aus München zugeschaltet worden und saß also nur in einem Fernsehgerät mit am Tisch der ARD.
Renate erhielt einen Anruf von Olaf, und hinterher erzählte sie, der sei schon betüdelt, aber einfach süß. In genau 109 Stunden werde sie wieder bei ihm sein. Und dann zog sie mit Gustav zu einer Wahlparty der Jusos los.
Mama, Volker und Wiebke fuhren zurück nach Meppen. Ich selbst hatte mir gewünscht, mal wieder eine Woche lang in Jever bleiben zu dürfen, und ich teilte mir das Kellerzimmer mit Renate, die allerdings erst spät und nicht gerade nüchtern angetorkelt kam.
Vorläufiges amtliches Endergebnis: SPD 42,6%, CDU/CSU 48,6%, FDP 7,9%, Sonstige 0,9%. Die Koalitionsregierung hatte eine Mehrheit von acht Sitzen, und Helmut Kohl, der sich trotzdem als Wahlgewinner betrachtete, war sauer auf die Freidemokraten, weil die sich nicht mit ihm an den Verhandlungstisch setzen wollten.
Ein besseres Ergebnis hatte die Union bisher tatsächlich nur ein einziges Mal erreicht, in der Ära Adenauer. Wie es damals zugegangen war, konnte man einem alten, in Opas Bücherschrank vorrätigen Sammelband mit den denkbar drögsten Adenauer-Anekdoten entnehmen. Einmal hatte Konrad Adenauer sich im Bundestag mit dem kommunistischen Abgeordneten Heinz Renner gefetzt. »Da lachen ja die Hühner, Herr Bundeskanzler«, hatte Renner ausgerufen und darauf von Adenauer zu hören bekommen: »Dann lachen Se mal, Herr Renner.«
Vollkommen hirnrissig war schon der Titel dieses Buchs: »... gar nicht so pingelig, m.D.u.H.« Wobei »m.D.u.H.« als Abkürzung der Floskel »meine Damen und Herren« auf dem Schutzumschlag stand.
Im Wahlkreis Emsland hatte die CDU 62,2 % der Zweitstimmen gekriegt, und das Direktmandat war natürlich an den christdemokratischen Kandidaten gegangen, Rudolf Seiters aus Papenburg. Im Emsland hätte die CDU auch ’n Besenstiel aufstellen können.
Von dem Taschengeld, das mir von Mama zugemessen worden war, kaufte ich mir bei Tolksdorff ein Buch über Lenin, der in Rußland 1917 die Oktoberrevolution angezettelt hatte. Vorher war er, wie ich aus dem Buch erfuhr, auch einmal in London gewesen und hatte den Stadtplan penibel genug studiert, um selbst Einheimische durch genaue Ortskenntnisse verblüffen zu können. In London! Ich dagegen hätte nicht mal sagen können, wo genau die Meppener Kuhstraße verlief.
Geschildert wurde in dem Buch auch, wie Lenin die Menschewiki ausmanövriert und die Macht an sich gerissen hatte. Die Angehörigen der Zarenfamilie waren 1918 erschossen und die zerhackten Leichen mit Benzin und Schwefelsäure übergossen und verbrannt und dann in einen Sumpf geschmissen worden.
Alle diejenigen abzuschlachten, die im Kampf gegen uns verwundet wurden, ist das Gesetz des Bürgerkriegs.
Das hatte ein Leitartikler der Iswestija geschrieben, und es waren Zehntausende liquidiert worden, von Erschießungskommandos der Tscheka, zackbumm, ohne Gerichtsverfahren und Grabreden. Im Hauptquartier des Moskauer Sowjets hatte 1918 ein Arbeiter die Erkennungsmerkmale eines todeswürdigen Bourgeois
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