Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Sinn.
Weil ich den neuen Physiksaal nicht gleich gefunden hatte, mußte ich mich neben irgendeinen Eierkopf setzen, auf den letzten freien Platz, direkt vorm Pult. Michaela saß total weit hinten irgendwo.
Der Pöttering schleppte einen riesigen Projektor an und stellte den genau vor meiner Nase ab. An der Hinterseite hatte das Ding ein fettes Gebläse, aus dem ein warmer, staubiger, muffiger Luftstrahl kam. Den kriegte ich die ganze Stunde über mitten ins Gesicht.
Am Ende dieses Schultags eierte ich unbeweibt nachhause, so wie immer, und in der Diele empfing mich der übliche Mittagsgestank.
Grünkohl mit Pinkel.
Nach dem Scheißen, vor dem Essen: Händewaschen nicht vergessen.
Alles wäre anders gewesen, wenn Michaela sich dazu entschlossen hätte, in die Redaktion der Schülerzeitung einzutreten, so wie Hermann Gerdes und ich. Da hätte man sich näherkommen können als im Klassenzimmer, denn in dem SV-Raum (»SV« wie »Schülervertretung«) achtete niemand auf halbwüchsige Vertreter der Mittelstufe wie Hermann und mich. Wir hielten uns zurück. Bei der ersten Redaktionssitzung nach den Ferien verzog ich mich nach ganz hinten auf das zerschlissene Sofa, das da herumstand, und eine vollbusige Oberstufenschülerin, die im Schneidersitz neben mir Platz nahm, dachte sich offensichtlich nichts dabei, als ihr Knie in den engen Jeans meinen linken Oberschenkel berührte. Die sah mich jedenfalls nicht an, im Gegensatz zu Hermann, der sich zwischen zwei langhaarigen Typen auf der Fensterbank niedergelassen hatte. Er warf mir aufmunternde Blicke zu, kniepäugelnd, aber dann zog diese Tante da ihr Knie auf einmal weg von mir, sprang auf und fragte in die Runde: »Wo issen hier das Klo?«
Auf dem freien Platz neben mir ließ sich dann einer der beiden Chefredakteure nieder. Peter Nossig. Das war ein blonder, vollbärtiger Schlaks, der an jedem Finger zehn Weiber hatte. Der andere Chefredakteur, Gregor Hellermann, trug einen dunkelbraunen Backenbart zur Schau und wirkte viel ernster als sein Kompagnon.
Er habe hier was für uns, sagte Peter Nossig, »nämlich den ersten und bis heute einzigen Leserbrief, der uns zugedacht worden ist! Alle mal herhören! Ruhe! Oder ich lasse den Saal räumen!«
Der Brief war maschinegeschrieben. Als Absender firmierte ein Mensch aus Esterfeld. Peter Nossig räusperte sich.
Lieben Schöler!
»Was ist denn das für ’ne bekloppte Anrede?« fragte Hermann, aber Gregor Hellermann legte seinen einen Zeigefinger an die Lippen, und Peter Nossig las ungerührt weiter vor.
Als ich die Nr. 1 Eurer neuen Schülerzeitung in die Griffel bekam, ging ich schon bald hoch wie ’ne Silvesterrakete. »Nun also auch hier! Nun also auch hier dies penetrant linkslastige Gedöns, diese pseudo-intellektuellen Weiheformeln sozialistischen Gesundbetertums und seiner Organe (im doppelten Wortsinn!), diese Aufstöhner eines fehlgeleiteten Idealismus«, dachte ich und wollte zuerst einen geharnischten Sammelbrief an den OKD, die Schulaufsichtsbehörde, die Schulleitung, die SMV, den Schulelternrat etc. etc. schicken und dringend darum ersuchen, die geistigen Väter der Schöler Schlosser, Nossig, Gerdes etc. feststellen zu lassen.
»Hohoho«, rief ein Mädchen dazwischen, das schon in die elfte oder zwölfte Klasse ging.
Denn so viel linkslastiges Blech ist bei der sonst so klaren Emslandluft ja wohl kaum von selbst in sechzehn-, siebzehnjährigen Gehirnen gewachsen. Dann aber meinte ich, es sei fairer, zunächst »das Gespräch« mit den Verfassern der Stürmer-und-Dränger-Artikel und den Verfechtern marxophiler Theoreme »zu suchen« (warum sind Stockkonservativlinge wie ich eigentlich meist um Fairneß bemüht, statt ebenfalls linke Touren zu reiten?!?).
Danach hackte der Absender auf einzelnen Beiträgen herum, vor allem auf Hermanns Artikel über Günter Wallraff:
O weh, o ach, wer Gelehrtes – Herr Hermann Gerdes! Wer wie Sie Wallraffens »Werke« als »sehr zu empfehlen« erachtet, der ist an den falschen Deutsch- und Soziologielehrer geraten! Mei-o-mei-o-mei-o-mei! Der von Karolus Marxus gezeugte, im Jahre des Unheils 1942 geborene, von Iljitsch Lenin gesäugte, unter Pontius Conradus gelittene, unter Willyboldus Brandtus mißratene hehre Geist, diese einsame Größe rheinischer Zunge und Schreibe ist wirklich das Letzte, was man in diesem Leben noch lesen, verehren, erreichen kann. Phouogh!
(»Na, der hat’s nötig, sich über den Schreibstil anderer Leute aufzuregen«, warf Gregor
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