Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Koffer voller Rubel angenommen als ein faules Friedensangebot aus Teheran.
Auf einer Staffelei im Schlafzimmer der beiden Alten stand ein Landschaftsgemälde, doch das durfte ich mir nicht genauer ansehen. Tante Hanna schücherte mich zurück: Das sei nichts, was man vorzeigen könne.
Abends setzten wir uns auf die Polstermöbel im Wohnzimmerbereich des Bungalows. Fräulein Kunze verteilte den sauren Weißwein auf die Gläser, und Tante Hanna erzählte, während der Kassettenrekorder lief.
»Als ich so acht, neun Jahre alt gewesen bin, hieß es: ›Was willst du später mal werden?‹ Ich wollte immer Matrose werden. Und mein jüngster Bruder sagte: ›Ätsch, ätsch, das kannst du nicht!‹«
Denn dafür hätte sie ein Junge sein müssen. Der jüngste Bruder, das war, wenn ich alles richtig verstanden hatte, ein gewisser Godehard Grote. Um das Durcheinander der Namen zu ordnen, hätte ich einen Stammbaum zeichnen müssen, aber dafür schon wieder aufstehen und mir einen Stift und Papier holen? Oder Fräulein Kunze darum bitten?
»Wie mein Großvater meine Großmutter heiratete, da war seine Mutter nicht damit einverstanden, weil die Braut, Mathilde von Boehn, ein armes Mädchen war«, sagte Tante Hanna. »Mathilde und ihre drei Schwestern waren früh verwaist. Die Eltern waren an Typhus gestorben, auf ihrem Gut in Pommern, als meine Großmutter ein halbes Jahr alt war. Dann wurde das Gut verkauft, und die Geschwister wurden auf den Gütern der Verwandten untergebracht. Meine Großmutter kam nach Kurtenfeld. Da bin ich seinerzeit auf der Flucht durchgekommen, im Sommer ’45, als gerade Ernteeinsatz war, und da wollte mich der Russe gleich zur Erntearbeit haben. Der saß oben auf seinem Pferd und haute mit einer Peitsche mit sieben Lederriemen nach uns, was sie da so zusammengetrieben hatten an Flüchtlingen und Einheimischen, und dann mußte man immer so tun, als ob man willfährig sei, und kaum war er aus dem Blickfeld, rückten wir aus ...«
Fräulein Kunze hielt die Augen geschlossen und rauchte und trank dabei aber halbautomatisch weiter, während Tante Hanna erzählte.
»Von ihren Stiefeltern wurde meine Großmutter sehr streng erzogen. Pietistisch. Sie hatte da einen jüngeren Vetter, und wenn der nun draußen spielte, und sie wollte auch nach draußen zum Spielen, dann durfte sie das nicht. Sie mußte bei ihrer Stiefmutter am Fenster sitzen und sticken. Und wenn sie sagte, sie möchte draußen rumspringen, dann hieß es, nein, Mädchen dürfen das nicht. ›Spring übern Stuhl, wenn du springen willst!‹ Da war sie so sechs oder acht Jahre alt. Sie ist da wohl ziemlich unglücklich gewesen als Kind. Als sie fast erwachsen war, kam sie in ein Internat. Das hat ihr weiteres Leben bestimmt, und da ist sie sehr gerne gewesen. So, und nun muß ich mal eben auf den Pott gehen. Ihr entschuldigt mich bitte.«
Tante Hanna stemmte sich mit beiden Armen aus dem Sessel hoch und trat den Weg zur Toilette an, und mir blieb Zeit, über die pietistischen Stiefeltern nachzudenken, denn Fräulein Kunze hielt die Augen nach wie vor geschlossen. Am Fenster sitzen und sticken, mit einer übellaunigen Stiefmutter, während die Geschwister draußen herumtoben? Das hätte ich keine drei Minuten lang ausgehalten. So eine Stiefmutter hätte ich in den Ofen gestoßen.
Bis Mitternacht erfuhr ich noch so einiges über Tante Hannas Vorfahren. Drei ihrer Onkel mütterlicherseits seien schon als Zehnjährige auf eine Kadettenanstalt geschickt worden und da an Diphterie gestorben. Als verarmte Postdirektorswitwe sei die Großmutter mit ihrer Tochter dann von Ostpreußen nach Wiesbaden gezogen, und diese Tochter, also Tante Hannas und Oma Schlossers Mutter, habe einen Beruf ergreifen müssen. »Es standen zwei Dinge zur Wahl. Bei der Prinzessin von Hessen-Nassau hätte sie Hofdame werden können, denn die Ahnenreihe, die dazu nötig war, hatte sie, aber das wollte sie nicht. So ging sie aufs Lehrerinnenseminar. Da traf sie einen ihrer alten Schullehrer, und der sagte zu ihr: ›Fräulein von Ploetz, könne Sie noch immer so mit die Ohre wackele?‹ Das hat Mutter uns als Kindern auch oft vormachen müssen ...«
Solche Geschichten.
Am Dienstagmorgen fuhren wir in Fräulein Kunzes Pkw zum nebligen Bodensee hinunter, nach Lindau, zum Einkaufen. Im Autoradio lief ein Stück des Komponisten Mendelssohn-Bartholdy, und Fräulein Kunze sagte, daß der ihr zuwider sei: »Mit dem werd ich irgendwie nicht warm. Ich hab’s versucht, von
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