Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Hanna, »hat dein Vater als kleiner Junge geliebt und mit Inbrunst geschmettert, einmal sogar im Schlafanzug nachts auf dem Flur! Dafür war dein Papa extra noch einmal aus dem Bett herausgeklettert gekommen!«
Zwei Kassetten hatte ich noch übrig, und Tante Hanna setzte sich wieder zurecht und besann sich.
»Die Schwester zwischen Großmama und Tante Camilla war Tante Paula. Die lebte in Rom. Alle zwei oder auch alle vier Jahre kam sie uns in Schildesche besuchen. Schildesche war nun aber gar nichts für diese feine Dame. Ich kann mich erinnern, ich muß da vier Jahre alt gewesen sein, daß Tante Paula immer in ganz langen, seidenen Kleidern herumlief. Eine höchst vornehme Dame. Und Tante Paula brachte uns nun aus Italien alles mögliche mit, was sie durch den Zoll schmuggeln konnte, unter anderem Decken für die Chaiselongue. Die wurden fein gefaltet und kamen mit in den Koffer, und am Zoll sagte Tante Paula, ach, das sei für die Reise. Und für uns Kinder hatte sie kleine Broschen, Mosaikarbeiten. Einmal hatte sie ein Kästchen mit Schmuggelware, Silber oder Gold oder sonst irgendwas, und die Zöllner packen also die Sachen auseinander, finden dieses Kästchen und wollen es öffnen, aber Tante Paula reißt es ihnen weg und ruft: ›O, lettere d’amore, lettere d’amore!‹ Und da war sie schon fünfzig oder sechzig, und die Zöllner amüsierten sich furchtbar, daß diese alte Jungfer mit ihren Liebesbriefen auf die Reise gegangen war, und drückten ein Auge zu ...«
Am Donnerstag unternahmen wir noch einmal einen Ausflug, bei dem ich den Bodensee von oben hätte bewundern sollen, aber der lag unter einer dicken Wolkendecke, und das Essengehen in einem österreichischen Restaurant fand ich dann auch nicht ganz so toll, wie es von mir erwartet wurde. Kartoffeln, Erbsen, Möhren und drei Tomatenviertel neben einem Blatt Kopfsalat und dazu ein sehniges Wiener Schnitzel.
Morgens, vor der Autofahrt nach Lindau, machte Tante Hanna mit meiner Kamera ein Foto von mir, wie ich da so in dem nebligen Garten stand. Im Zug fragte ich mich, was die Tanten jetzt wohl so über mich redeten. Ob sie sagten, na, das ist ja ein patenter Junge? Oder ob es sie nervte, meine Popelstücke aufzusaugen?
Im Stuttgarter Hauptbahnhof hatte ich beim Umsteigen Zeit genug dazu, mir eine Schachtel HB zu kaufen und ein Feuerzeug.
In einem Raucherabteil zu sitzen und eine HB zu schmöken, wie ein Erwachsener, das fühlte sich gut an. Auch dreckig und blödsinnig, aber eben auch gut. Wie das Leerfressen eines Adventskalenders am ersten Dezember.
In Koblenz hatten die Gerlachs mich abholen wollen, aber von denen war nichts zu sehen, weder auf dem Bahnsteig noch im Bahnhof und auch nicht davor.
Zum Mallendarer Berg fuhr um diese Uhrzeit kein Bus mehr, aber es gab noch einen nach Vallendar. Einer alten Frau, die ebenfalls auf den Mallendarer Berg wollte, half ich, ganz Kavalier, mit ihren Koffern, und als ich alle drei in den Bus gewuchtet hatte, sagte sie, daß ihr zwei davon gar nicht gehörten. Die gehörten einem Mann, der sich schon gewundert hatte, was ich da mit seinen Koffern machte. Zum Glück fuhr dieser Mann mit demselben Bus.
In Vallendar wollte ich per Anhalter nach oben auf den Berg kommen, doch dann heftete sich die Alte an meine Fersen: Bei Dunkelheit wolle sie nicht alleine gehen, und Trampen komme überhaupt nicht in Frage. Mit Anhalter war’s also nix. Stattdessen durfte ich jetzt dieser Frau ihren Koffer die ganze steile Sprungschanze hochschleppen und mir dabei das Gequatsche anhören. Und dann ging auch noch dauernd das Kofferschloß auf, und es rieselten Babyklamotten auf den Bürgersteig.
Erst auf der Kaiser-Friedrich-Höhe konnte ich das Weib abschütteln und mich zu den Gerlachs begeben. Die weilten daheim, und Michael sagte, daß er und sein Vater den Bahnhof in Koblenz von oben bis unten nach mir abgesucht hätten.
Unerklärlich, weshalb wir uns da trotzdem verpaßt hatten.
Nach dem Abendbrot gingen Michael und ich auf sein Zimmer. Holger hatte irgendeine ansteckende Krankheit, dem durfte man sich nicht nähern, und im Fernsehen kam sowieso nix Vernünftiges.
Gleich morgen früh, sagte Michael gähnend, müsse er eine Matheklausur schreiben und dafür auch noch was lernen und danach zeitig zu Bett gehen: »So sieht’s hier aus! Oder haste dir etwa irgendwie mehr versprochen von deinem Aufenthalt in Old Valla?«
Nachdem Michael morgens zur Schule gefahren war, verbrachte ich den Vormittag damit, an unserem
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