Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Ampel kaputt war.
Der Untergang des Hauses Usher.
Mama schickte mich zum Schneeschippen raus, aber vor diesen Schneemassen hätte selbst Herkules die Waffen gestreckt.
In der Literaturgeschichtstabelle übersprang ich ein paar Spalten und las jetzt Gedichte von Walther von der Vogelweide. Der hatte im Mittelalter gelebt, so um das Jahr 1200 herum, als Minnesänger. Unter der Linde, vor dem Wald in einem Tal, da habe die Nachtigall sehr schön gesungen, während das weibliche lyrische Ich seinen Geliebten empfing:
Kuste er mich? Wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der mûnt.
Was dann weiter abgelaufen war, erfuhr man zwar nicht, doch das konnte man sich ja denken.
Gejubelt hatte Walther von der Vogelweide über sein »Lehen«, also wohl so etwas wie ’ne Altersrente, so daß er nicht mehr befürchten mußte, daß ihm der Februarfrost in die Zehen biß:
Ich hân mîn lehen, al die werlt, ich hân mîn lehen.
nû entfürhte ich niht den hornunc an die zêhen ...
Als Dichter vor einem König auf den Knien herumrutschen zu müssen, aus Dankbarkeit für eine milde Gabe, dazu hätte ich keine Lust gehabt.
Der edel künec, der milte künec hât mich berâten,
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân.
Walther von der Vogelweide war aber wohl nichts anderes übriggeblieben, denn sonst hätte der edle König das Lehen womöglich gleich wieder einkassiert. Dann doch lieber im zwanzigsten Jahrhundert in einer parlamentarischen Demokratie den Arsch an die Heizung halten als im Hochmittelalter auf die Gnade eines allmächtigen Herrschers angewiesen sein.
Draußen rollten lärmige Räumfahrzeuge vorüber, die den Schnee von den Straßen beseitigten, und dann mußte leider auch ich wieder in die Kälte hinaus, mit der Schneeschaufel über der Schulter. O Scheiße! Wieso, weshalb, warum waren die Naturgewalten nur so dämlich, auch das Flachland einzuschneien, wo man nach dem Schneeschippen nicht einmal rodeln konnte?
Meine lieben Geschwister, die faulen Säue, hatten sich herausgeredet: Wiebke war auf ’ner Geburtstagsfeier, und Volker mußte angeblich fürs Abitur pauken, und so blieb es ganz allein mir überlassen, ins Schneetreiben hinauszutreten und den Bürgersteig zu säubern.
Kaum hatte ich ein paar Meter so halbwegs freigeschaufelt, da deckte hinter mir der Wettergott den schmalen Pfad schon wieder zu mit diesem Dreckskackschnee, der zu nichts anderem taugte als zum Weggeschaufeltwerdenmüssen.
Zwei Stunden hielt ich durch. Dann hatte ich es satt, mit nasser Brille, klammen Pfoten und gekrümmtem Buckel Sisyphos zu spielen, und als ich mir in der Küche die Hände wusch, saß Wiebke da grinsend am Tisch und fraß Haribo.
Um halb acht klingelte das Telefon. Ich war am schnellsten beim Wettrennen und nahm ab.
»Hier bei Familie Schlosser!«
Am anderen Ende der Telefonleitung meldete sich Oma Jever mit großem Hallo. Sie fragte mich, ob es auch in Meppen so sagenhaft üppig sei mit dem Schnee. Nicht daß sie ihn so liebe, o nein, überhaupt nicht, aber es sei doch ein Erlebnis! »Stell dir mal die völlig veränderten Verhältnisse hier in der Mühlenstraße vor! Wo sonst unaufhörlich die Autos fahren, gehen nun dick vermummte Menschen und ziehen ihre Schlitten hinter sich her, und es ist herrlich ruhig!« Oben würden unentwegt Hubschrauber knattern, die den eingeschneiten Bauernhöfen zuhilfe kämen und einmal sogar Mehl und Hefe für Jevers Bäcker herbeigebracht hätten. Frische Milch, direkt vom Bauernhof, hole die Feuerwehr und beliefere damit die Milchgeschäfte. »Und nun gib mir doch mal deine liebe Mama!«
Mit Oma schnatterte Mama dann noch fast zwanzig Minuten lang, aber das ging ja alles auf Opa Jevers Kosten.
Die Chinesen hatten Vietnam angegriffen, frühmorgens. An Kommunisten, die einander spinnefeind waren und sich gegenseitig beschossen, hatten die Kapitalisten wahrscheinlich ihre größte Freude, und erst recht, wenn die Kommunisten in ihren Bruderkriegen die von den Kapitalisten hergestellte Munition aufeinander abfeuerten.
In einem spätabends ausgestrahlten Werk des polnischen Filmemachers Krzysztof Zanussi haderte ein unheilbar kranker Ingenieur mit seinem Schicksal. Verrecken müssen, an Krebs, in absehbarer Zeit: Was hätte ich mir selbst denn wohl vorgenommen, wenn mir nur noch ein paar Wochen Lebenszeit geblieben wären? Ob ich es über mich gebracht hätte, Mama und Papa um eine Bargeldspende zu bitten, für eine Reise an die Reeperbahn, damit ich
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