Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
es am Sonntag welche zum Tee, aber Mama aß nur ein Häppchen davon, wegen ihrer Figur. »Ich muß nun mal auf meine Linie achten …«
Der Fluch des Erwachsenseins.
Weil die Kluntjes alle waren, mußten wir normalen Zucker nehmen. Papa sagte, chemisch sei das genau dasselbe, und daher könne Tee mit Kandis nicht anders schmecken als mit gewöhnlichem Zucker. Mama widersprach, doch Papa ließ sich nicht beirren.
Selbst wenn er recht gehabt hätte – was für ein schaler Triumph wäre das gewesen! Hätte Papa sich mit seinen Geistesgaben denn nicht wichtigeren Dingen zuwenden könen? Weshalb war er eigentlich kein Erfinder geworden, so wie Gottfried Daimler oder Carl Benz? Oder Werner von Siemens? Oder wenigstens eine Kapazität in Atomphysik oder Raketenbau?
Ein ganzes Jahr war es schon her, daß ich meinen Austritt aus der SPD erklärt hatte, schriftlich, aus Protest gegen den Nachrüstungsbeschluß, und dennoch kriegte ich allmonatlich die niederschmetternd fade Parteimitgliederzeitschrift Sozialdemokrat Magazin zugeschickt.
Ich opferte das Porto für eine Postkarte und informierte die Parteizentrale abermals über meinen Austritt.
Von dem freidemokratischen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff stammte ein Ausspruch, der selbst Papa zum Lachen brachte: »Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer.«
In den Spätnachrichten sah man, wie sich Hausbesetzer in Berlin auf dem Kudamm eine Schlacht mit der Polizei lieferten, die instandbesetzte Häuser geräumt hatte.
Und statt da mitmischen zu können, auf der Seite der Hausbesetzer, hockte man im verstunkenen Meppen vorm Fernseher. Wie lange wohnte ich jetzt eigentlich schon hier? Fünftausend Jahre?
An Opas erstem Todestag fuhr Mama nach Jever, um Oma beizustehen und mit ihr auf den Friedhof zu gehen.
Opas Gebeine, wie die wohl aussehen mochten inzwischen. Besser nicht daran denken.
Das Grab sei in Ordnung, sagte Mama, als sie wieder zurück war.
Für Oma Schlosser hatte sie eine Aufnahme von Bachs abscheulichem Weihnachtsoratorium bestellt, die ewig und drei Tage lang nicht gekommen war, und als Mama das Ding endlich gekrallt und verpackt hatte und damit zum Postamt fuhr, kam sie genau eine halbe Minute zu spät.
Weihnachtsgeschenke aussuchen. Das mußte ich ja auch noch. Also auf zu Buch & Spiel Claus in der Bahnhofstraße. Für Wiebke ’ne Pinnwand, für Volker ’ne Pinnwand, für Mama ’ne Kerze …
Für Renate brauchte ich nichts; die wollte die Feiertage in Bonn verbringen. Und für Papa kaufte ich eine Taschenbuchausgabe von Kafkas »Brief an den Vater«. Vielleicht nützte das ja was.
Heike kam mir mit dem Vorschlag entgegen, daß wir uns lieber so mal zwischendurch was schenken sollten und nicht ausgerechnet zu Weihnachten, wo sowieso nur leeres Stroh gedroschen werde von wegen Nächstenliebe und Eiapopeia.
Am 24. Dezember ragte der Zeitungsberg an der Post mehr als doppelt so hoch auf wie gewöhnlich, weil es lauter fette Sonderbeilagen gab. Da würde ich mindestens zweimal von der Post zum Hasebrink radeln müssen. Aber dafür spitzte ich mich, allen schlechten Erfahrungen zum Trotz, auf die milden Gaben der Abonnenten. Ich war bereit, der gesamten Bagage ihre am Nikolaustag demonstrierte Knauserigkeit zu verzeihen, wenn ich diesmal wenigstens auf jedem dritten oder vierten Fußabtreter eine Aufmerksamkeit für den emsigen Zeitungsboten vorfinden sollte. Naschwaren, geistige Getränke, Bargeldspenden – Martin Schlosser war für alles offen. Selbst wenn mir nur jeder zehnte Bezieher der Tagespost einen Umschlag mit einem Fünfmarkschein spendierte, würde ich ein kleines Vermögen scheffeln.
Und – wer sagt’s denn? Bereits am ersten Türknauf in der Fasanenstraße baumelte ein verheißungsvoll konturiertes Säckchen mit roter Schleife und Kärtchen:
Für den lieben Postboten!
Okay. Der sollte auch nicht leer ausgehen. Das sah ich ein. Auch wenn er einen viel bequemeren Job hatte als ich.
An der nächsten Haustür wartete die nächste Überraschung im Gewand eines süßigkeitengefüllten Körbchens. Mit einem Zettel dran:
Dem Briefträger zum Weihnachtsfest von Familie Schatzschneider!
Als ich mit der Fasanenstraße durch war, hatte ich achtzehn unterschiedlich große und gewichtige Präsente für den Briefträger zu Gesicht bekommen und kein einziges für mich.
Über hundert Haushalte hatte ich aber noch zu bestücken, und es hätte mit dem Teufel zugehen müssen, wenn nicht auch für mich was
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