Alle Vögel fliegen hoch
Und ich hockte jeden Abend nach dem Unterricht allein daheim. Wenn ich jetzt gleich tot wäre, bereute ich vielleicht all die Abende, an denen ich mit Flipper zu Hause geblieben war?
»Nein, ich habe nichts mit dir versäumt. War nur ne blöde Frage«, rechtfertigte ich mich. »Der wird schließlich von
meinen Steuergeldern bezahlt. Da wird man sich wohl mal Gedanken machen dürfen.«
Wenn Flipper gekonnt hätte, davon bin ich überzeugt, hätte er mir einen Vogel gezeigt. Auch wenn ich selbst niemals auf die Idee gekommen wäre, den Kommissar anzurufen, ich musste es tun, als erzieherische Maßnahme, um Flipper daran zu erinnern, wo oben und wo unten war. Ich wählte die Nummer, die ich auswendig kannte. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Ja, sicher, ich hatte das Kärtchen ein paarmal in der Hand gehabt, na und? Ich wollte nur mal kontrollieren, wie mit meinen Steuergeldern umgegangen wurde.
Ob Donnerstagabend überhaupt jemand anwesend war bei der Polizei in … Fürstenfeldbruck.
»Tixel?«
Vor Schreck drückte ich den roten Knopf.
Flipper ächzte.
»Ja, ja«, knurrte ich ihn an, da klingelte mein Handy.
»Ja?«
»Sie haben bei mir angerufen?«
»Hallo«, sagte ich.
»Wer ist denn da?«
»Ich«, sagte ich. Schweigen.
»Hören Sie«, sagte er, »wir können uns jederzeit treffen, und ich sichere Ihnen zu, dass Sie …«
»Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie da sind.«
»Wie bitte?«
»Also weil doch Donnerstag ist.«
»Bitte, wer spricht? Bitte sagen Sie mir Ihren Namen.«
»Ich bin’s.« Mir fiel ein, dass er nicht wissen konnte, wer
ich bin, er konnte nichts dafür, dass ich ein paarmal an ihn gedacht hatte, sodass ich der Meinung war, ich bin’s müsste genügen. »Franziska Fischer«, schob ich nach und ärgerte mich, weil ich mich Franziska nannte wie bei einer Ausweiskontrolle; wenn hier jemand kontrollierte, dann doch wohl ich.
»Fischer?«
»Ja, Fischer. Franza Fischer.«
»Frau Fischer!!!«
Es verschlug mir die Sprache. Er hatte mich vergessen!
»Verzeihung. Ich habe Sie verwechselt.«
»Ja. Ich auch. Ich meine, ich wollte gar nicht«, versuchte ich meine Ehre zu retten. »Also das Telefon. Das ist ein Versehen. Und ich sollte ja auch gar nicht bei Ihnen anrufen. Sondern bei der Stimme auf der Mailbox. Die hatte noch ein paar Fragen. Aber bestimmt nicht so spät. Also ich melde mich dann wieder. So am Montag oder so.«
»Frau Fischer!«
»Ja, und es ist gut, dass Sie so fleißig sind.«
»Bitte …«
»Dass Sie sich überhaupt nicht mehr an mich erinnern, das spricht auch für Sie, ich meine für Ihren Einsatz. Es geschehen ja ständig neue Verbrechen.«
In meinem rechten Ohr stöhnte es auf. Oder jemand biss sich auf die Unterlippe, um nicht herauszuplatzen. Mir doch egal.
»Also einen schönen Abend noch«, beendete ich das Gespräch, drückte den roten Knopf und schaltete das Handy sofort aus. Mein Gesicht leuchtete wie eine aufgeschnittene Blutorange. Ich hatte eine Hitzewallung, obwohl ich noch
ein Fünfteljahrhundert von den Wechseljahren entfernt war. Er hatte mich nicht erkannt. Er hatte einen anderen Anruf erwartet. Wahrscheinlich jemanden, der sein Gewissen erleichtern wollte. Das ging mich nichts an. Ich hatte kein Geständnis abzulegen, ich wollte bloß wissen, was mit meinen Steuergeldern getrieben wurde. Ganz allgemein und unverbindlich. Flipper grinste bis zu den Ohren. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken.
Am Freitagmorgen, Tag drei danach , beschloss ich spontan und ohne auf Flippers Markierungen zu achten, zum Hochsitz zu fahren, vielleicht konnte ich den Teil meiner Seele finden, den ich irgendwo im Gebüsch um den Toten herum verloren hatte, warum sonst fragte ich mich dauernd, wer er war, warum er gestorben war, wie er gelebt hatte?
Flipper wollte nicht mit. Das war noch nie vorgekommen; er weigerte sich, ins Auto einzusteigen. Drehte den Kopf in eine andere Richtung und stellte sich taub. Ich versuchte ihn auszutricksen. »Tierladen«, sagte ich. Das war das Versprechen fürs Hundeparadies, und da ich ihn eigentlich nicht anlügen möchte, nahm ich mir vor, bald beim Tierladen in Weßling vorbeizufahren, doch Flipper schaute mich nur traurig an.
»Entschuldigung«, murmelte ich.
Mit einem abgrundtiefen Seufzer sprang er in den Wagen.
Ich kann also nicht behaupten, ich wäre nicht gewarnt gewesen …
3
Der Mörder kehrt an den Tatort zurück, natürlich wusste ich als Krimifan das. Deshalb hatte ich schon an der
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