Alle Vögel fliegen hoch
Autobahnausfahrt Starnberg Herzklopfen, das sich steigerte von Percha nach Kempfenhausen, über Berg Richtung Ammerland. Wie am Dienstag nahm ich den schmalen Pfad in den Wald, hielt mich zuerst links, dann rechts und gelangte schließlich zu der Senke mit den Feldern und Wiesen, wo ich kurz zögerte. Flipper wies widerwillig den Weg. Normalerweise läuft er voraus; heute ging er gerade mal ein, zwei Meter vor mir her, und das beunruhigte mich. Immer wieder drehte er sich nach mir um, und ich las die Frage in seinem Blick: Muss das sein ? Sein braunes Auge sah besonders traurig aus und das blaue besonders ernst. »Bring mir ’nen Stock«, befahl ich.
Apportieren liebt er über alles, und er bringt auch alles, ohne Knautschen, Zahnabdruck und Beschädigung zurück. Flipper transportiert sogar rohe Eier, was ich gerne vorführe, wenn jemand Angst vor Hunden hat. Gelegentlich verblüfft Flipper mich, indem er Sachen anliefert, die wir nie geprobt haben. Alles, was ich tun muss, ist, mich auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Heute streikte Flipper. Verwundert wiederholte ich den Befehl.
Sein blaues Auge wurde noch ernster.
Spätestens jetzt hätte ich den Rückzug antreten müssen. Wie sollte er mir noch deutlicher zeigen, dass wir über ein Minenfeld liefen? Aber ich glaubte, meine Autorität unter Beweis stellen zu müssen und wiederholte den Befehl ein drittes Mal, und nun schleppte Flipper widerwillig eine halbe Eiche an, die ich versuchte hochzustemmen, ohne mir den Rücken zu verreißen; keuchend warf ich sie so weit weg wie möglich, schleuderte Stöcke in alle Richtungen, schickte Flipper los, sie in der korrekten Reihenfolge zu apportieren, rannte mit ihm um die Wette und versuchte so zu tun, als hätte es den letzten Dienstag nicht gegeben. Flipper spielte mit, auch wenn er wahrscheinlich wusste, dass wir nur so taten, als ob. Ich geriet ins Schwitzen und begriff, dass ich meine versprengten Seelenteile nicht am Hochsitz finden würde, sondern durch Lebensfreude. Flipper hechelte begeistert mal hinter, mal vor mir, durchschnitt den Chor der Vogelstimmen, diese Tour war ganz nach seinem Geschmack, und allmählich klang meine Stimme sicher und fröhlich. Franza und Flipper beim Spielen. Sonst nichts.
Wie angenehm kühl es im Wald war, und wie zart das Moos schimmerte. Was für eine herrliche Gegend.
Bestimmt wuchsen hier jede Menge seltener Pflanzen. Es gab riesengroße Farne und Moorkolben und dazwischen matschige Wasserlöcher. Leider war es auch ein wenig sumpfig. Irgendwo raschelte etwas. John Sinclair fiel mir ein.
»Flipper?«, fragte ich.
Ich hörte ihn nicht mehr.
»Flipper?« Meine Stimme kippte.
Ich blieb stehen und lauschte und atmete so laut, dass ich
nur mich selbst hörte. Knackte da etwas? Oder bildete ich mir das ein?
»Flipper! Hier!« Das hörte sich schon fast hysterisch an.
Der Wald war nicht mehr kühl, sondern kalt, fast frostig, und es war viel zu dunkel, ich hatte mich verlaufen. Gerne wäre ich jetzt wütend gewesen. Doch mir war unheimlich zumute. So ähnlich wie früher. Ganz früher wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, allein durch einen Wald zu spazieren. Ganz früher hatte ich im Dunkeln Angst und konnte nur bei Licht schlafen. Meine Oma wollte keinen Strom verschwenden und meldete mich beim Judo an. Nach jedem Training führte ich ihr stolz vor, was ich gelernt hatte. Manchmal sah meine Oma aus, als wäre sie in eine Schlägerei geraten. Unerschrocken griff sie mich an, und ich verteidigte mich, und Omas blaue Flecken wurden grün und lila und gelb. Als meine Judolehrerin wegen Schwangerschaft pausierte, meldete meine Oma mich bei Taekwondo an. Später probierte ich Jiu Jitsu und Aikido aus. Da hatte ich schon eifrig Gürtel gesammelt. Richtig sicher ist mein Leben erst mit Flipper geworden – wenn er bloß da wäre, »Flipper!«
Ich pfiff meinen schrillsten Pfiff, und da kam er angerast, eine große schwarze, wilde Bestie, im Maul einen dicken mit Moos bewachsenen Ast. Sein Fell war gesträubt, er warf mir den Ast vor die Füße und bellte wie ein Berserker.
»Flipper! Still!«, befahl ich ihm einmal, zweimal, dreimal. Was war nur in ihn gefahren! Widerwillig hörte er auf zu bellen, knurrte das Holzstück an.
»Los jetzt, weiter«, befahl ich.
Flipper weigerte sich. Was waren das für Marotten? Wieso kehrte er plötzlich den Tibetterrier raus?
Ich drohte meine souveräne Führungsrolle zu verlieren. »Fuß!!!«
Er schlich an meine linke Seite. Blieb
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