Alle Vögel fliegen hoch
holen. Das ist die Basis in jedem Selbstverteidigungskurs. Nicht umsonst hat Flipper an Dutzenden solcher Kurse teilgenommen. Als Nächstes
sollte er den roten Knopf drücken, der ihn mit dem U-Bahn-Fahrer verbinden würde. Aber da war kein Knopf. Und der einzige irgendwie Bevollmächtigte weit und breit war ich: seine Vorgesetzte. Die ziemlich kopflos herumstand. Mein Herz schlug viel zu schnell und meine Augen brannten vom Salz meines Schweißes. Ich schwitzte, als hätte ich ein paar hundert Crunches in der Sauna absolviert, dabei befand ich mich im Schatten. Es war zwar warm, aber nicht heiß wie an den vergangenen Tagen, nachts hatte es heftige Gewitter gegeben, in München sogar mit Hagel. Flipper musterte mich leicht beunruhigt. Seine Sensoren meldeten wahrscheinlich Alarmstufe Rot. Die gab es in der Tat, so lange er mich mit der Gewebeprobe auf der Zunge anlächelte.
Ich kramte in meinem Rucksack nach einem Taschentuch, hielt Flippers Zunge fest, besser gesagt: versuchte, sie festzuhalten, sie flutschte mir durch die Finger, und Flipper schaute mich empört an. Er war schließlich kein Kleinkind. Fehlte gerade noch, dass ich auf das Taschentuch spuckte und seine Backen abrieb. Wie unhöflich aber auch. Warum schleckte ich ihm nicht kameradschaftlich übers Maul? Keine Manieren, die Menschen!
Es tut mir leid , dachte ich und wusste, dass die Entschuldigung ankam. Mit Flipper brauche ich nicht laut zu reden. Er weiß, was ich denke. Natürlich habe ich mir das Reden deshalb nicht abgewöhnt, doch manchmal ist es sehr angenehm, darauf zu verzichten. Zum Beispiel, wenn Magensäure in der Kehle Tango tanzt. Ich rieb mit dem Taschentuch auf Flippers Zunge herum, wobei ich leider mit dem feuchten rosaroten Schlabberteil und dessen grünlichem Belag in Berührung kam. Ich musste noch mal in die Büsche.
Hoffentlich würde ich bald aufwachen. So lange dauerten Träume normalerweise nicht. Oder dieser Typ da im Gestrüpp sollte aufwachen. Das alles war doch nicht echt. Irgendjemand hatte die lebensgroße Lumpenpuppe bei Drehschluss vergessen, ein Praktikant wahrscheinlich, der rasch zu seinen Kumpels wollte, und so hatte er die Requisite in den Sträuchern liegen lassen. War ja nicht seine. Gehörte dem Sender. War ja nicht sein Auto. Gehörte Papa. Auf junge Leute war kein Verlass, die hatten alles andere im Sinn, bloß nicht ihren Job, das war völlig normal, und außerdem war diese Szene sowieso nicht real. Wobei das mit dem bestialischen Gestank erschreckend realistisch roch.
Ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich wollte einfach nur mit meinem Hund spazieren gehen. Und wenn ich irgendwann mal eine echte Leiche finden würde, dann würde ich mich professioneller benehmen, schließlich war ich vorbereitet. Ich wusste, dass man damit rechnen muss, als Hundebesitzerin. Ich lebte nicht hinterm Mond! Ich war eine Großstädterin, 33 Jahre alt, mit einem Körperfettanteil von 20 Prozent, trotz meiner Schokoladensucht oder gerade deshalb, denn wenn ich einen anderen Beruf hätte als Fitness- und Selbstverteidigungstrainerin, könnte ich mir so viel Schokolade gar nicht erlauben, Schokolade erbricht sich übrigens unangenehm zäh. Mir wurde schwarz vor den Augen.
Als ich wieder zu mir kam, saß Flipper, das Gesicht ein konzentriertes Dreieck, als wäre er gerade mit der euklidischen Geometrie befasst, aufrecht neben mir. Die Ohren hatte er gespitzt, also angehoben, denn spitzen ist nicht möglich,
wenn man zwei solche weichen Lappen wie eine Trendfrisur neben dem Gesicht hängen hat, die sich beim Laufen noch dazu leicht einrollen. Flippers linker Lappen schimmert ein wenig rötlich, der rechte schwarz und und er ist etwas kleiner als der rote. Um das zu erkennen, muss man Flipper sehr nah kommen, so nah, wie nur ich es darf, zum Beispiel beim Ohrenkraulen. Das liebt er über alles. Am schönsten findet er es, wenn ich ihm gleichzeitig zwei Finger sanft in die Ohren stecke und kreisend massiere. Da schnurrt er wie eine Katze. Das darf ich keinesfalls sagen und nicht mal denken, denn Katzen sind das Vorletzte. Danach kommen nur noch Chihuahuas in roten Mäntelchen, während er die in grünen Mäntelchen geradezu liebt, was mir zu denken gibt.
Über mir war nichts außer dem blauen Himmel und Flippers klugem Gesicht. Mitfühlend schaute er mich an und vielleicht ein wenig besorgt. Normalerweise lege ich mich nicht ins Gras. Ein Tröpfchen Speichel flog auf meine Wange, als Flipper sich über die Lefzen
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