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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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überflüssig, und wenn mir was einfällt, dann trifft es mich oft mit voller Wucht, weil ich es eben nicht dosieren kann, und dann werde ich melancholisch oder sentimental, und jetzt hockte ich auf diesem Hochsitz und vermisste meine Oma. Sie war die Einzige gewesen, die begriffen hatte, dass ich nicht log. Dass ich nur eine andere Wahrheit erzählte. Dass die Grenze zwischen dem, worauf sich die meisten Menschen geeinigt haben, und dem, was auch sein könnte, bei mir durchsichtig war. Meine Oma hatte meine Lehrerinnen um Milde gebeten
: Das wächst sich schon noch zurecht. Geben Sie dem Kind Zeit. Ich glaube heute, dass meine Oma hoffte, es würde sich nie wirklich zurechtwachsen. Meine Oma hat immer an mich geglaubt und mich nie verraten, auch nicht, wenn meine Spielkameraden sie fragten: »Ist es wahr, dass die Franza fliegen kann?«
    »Warum fragt ihr mich das?«, fragte meine Oma zurück. »Ich kann euch nur sagen, dass ich nicht fliegen kann. Leider. Ich wünschte, ich könnte es. Ich würde sehr gern jemanden kennen, der es kann, dann könnte er mir erzählen, wie es sich anfühlt.«
    Manchmal brachte ich meine Oma allerdings in die Bredouille, zum Beispiel mit dem wilden schwarzen Hengst, der in unserem Badezimmer wohnte. Das Problem war das Gras, das er brauchte, wo sollte das wachsen? Ein Pferd frisst eine Menge. Zwischen einem und drei Kilo pro Stunde, schätzte meine Oma, und präsentierte mir eine Textaufgabe: Wenn ein Pferd auf der Weide innerhalb von sechs Stunden bei fünfzehn bis zwanzig Zentimeter hohem Gras ungefähr ein Prozent seines Körpergewichts frisst – a) wie viel wiegt das Pferd? b) wie viel frisst es, wenn das Gras nur fünf bis zehn Zentimeter hoch ist? c) wie viel, wenn es vorher stark geregnet hat? Die Textaufgabe wurde täglich variiert, mal hatte es gehagelt, mal war das Gras Heu, mal hatte es mehr Kräuter, mal weniger, da nahmen wir gleich noch die Botanik durch, und natürlich brauchten verschiedene Pferderassen unterschiedliche Mengen: a) Haflinger, b) Isländer, c) Araber, d) Hannoveraner. Meine Oma war nicht damit einverstanden, dass das Gras aus den Fugen der Kacheln über der Badewanne spross, weil das zu wenig auch für
einen Haflinger war, »und bei uns soll ja keiner hungern. Oder, Franzi?«
    »Nein, Oma, alle sollen satt werden.«
    »Ob es einem großen Pferd in unserem kleinen Bad wohl gefallen würde, was meint du, Franzi?«
    »Nein, Oma, eher nicht.«
    »Tja, was machen wir denn da jetzt, Franzi?«
    »Vielleicht das Fenster auf?«
    »Das ist eine gute Idee. Es gibt nämlich Pferde, die können fliegen. Wusstest du das, Franzi?«
    »Klar, Oma«, wieherte ich.
    Meine Oma akzeptierte meine Parallelwelt, weil ich eben keine Eltern hatte wie die meisten Kinder aus meiner Klasse – mit Sonntagsausflügen mit dem Papa, gemeinsamen Abendessen und Urlauben. Bei mir war es anders. Es dauerte viele Jahre, ehe ich dies auch als Glück erkannte. Vielleicht konnte auch Flippers neuer Freund fliegen.
    »Hast du den Toten eigentlich gekannt?«, fragte ich ihn.
    Simon wurde rot. Knallrot wie Sauerkirschmarmelade. Er versteckte sein Gesicht in Flippers Fell und schwieg. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe keine Erfahrung mit Kindern. Es ist nicht so, dass ich Kinder nicht mag, ich kenne nur keine. Ich hatte keine Idee, wie ich das Glas Sauerkirschmarmelade öffnen sollte. Flipper ploppte es. Er warf sich auf den Rücken, streckte alle viere von sich, sein Po schlingerte über dem Abgrund. Nun hatte Simon ein Problem. Er konnte sich nicht mehr verstecken. Ich drückte Repeat.
    »Ob du den Toten gekannt hast?«, wiederholte ich.
    »Freilich.«

    »Woher?«
    »Der wohnt neben uns«, gab Simon Auskunft.
    »Wo wohnst du überhaupt?«
    Simon wies nach links. »Da.«
    »Münsing?«
    »Nein. In Münsing ist meine Schule. Ich wohne in Wampertskirchen. «
    »Ach so, ja!« Ich erinnerte mich. »Das hast du mir schon mal gesagt. Entschuldigung. Normalerweise merke ich mir so was.«
    »Der Schulbus fährt nur wegen mir da hin. Wenn ich da nicht wohnen würde, würde der gar nicht halten.«
    »Das ist ja dann ein Glück für den Schulbusfahrer, so sieht er ein bisschen was von der Welt.«
    Simon nickte bedächtig.
    »Also hast du keine Spielkameraden bei dir daheim?«
    »Ich hab meinen Hund.«
    »Klar«, sagte ich und verzichtete darauf, nach dem Namen des Hundes zu fragen.
    »Und Flipper«, behauptete Simon.
    »Klar«, sagte ich.
    »Weil, Flipper ist nämlich mein Freund«, sagte

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