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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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ist mir bewusst. Und macht mir überhaupt nichts aus.
    »Bisschen viel Arbeit in letzter Zeit«, sagte ich, um zu erklären, warum ich so beschissen aussah. Ich hätte nicht bei der Polizei anrufen sollen. Ich hatte mich lächerlich gemacht. Ich habe eine Wolke gesehen! Meine Haare hingen strähnig an mir runter, obwohl ich sie nach dem Unterricht am Morgen gewaschen hatte, meine Augen waren klein und gerötet, als hätte ich geheult und dabei sämtliches Strahleblau versalzen, und mein vorgestern noch wohldosierter Bronzeteint hatte sich über Nacht zu Leichenblässe verwässert.
    »Ja, ich hab schon gehört, du hast ein paar Stunden von Lydia übernommen.«
    »Nicht nur hier. Auch im Vitalis und im Sportive und bei Enzo«, zählte ich Argumente für mein schlechtes Aussehen auf. Etwas in mir wollte auf keinen Fall darüber sprechen, was mir zugestoßen war – beziehungsweise dem anderen –, gerade so, als würde es durch Aussprechen erst recht wahr, als gäbe es eine klitzekleine Möglichkeit, es ungeschehen zu machen, indem ich es ignorierte. Ich hätte nicht mal gewusst, wie ich es sagen sollte, welche Wörter ich benutzen sollte. Man fand einen Euro oder eine Handtasche, man fand einen Hund oder eine Katze, aber keine Leiche. Außerdem wollte ich nicht mit dieser Leiche in Verbindung gebracht werden. Das wäre nicht gut für mein Business, das Jugend, Gesundheit und Attraktivität verspricht, und auch Flipper sollte keinesfalls als Totengräber und Leichenhund gemieden werden. Der einzige Mensch, dem ich von meinem
Fund erzählen würde, war meine Bekannte Andrea. Am Sonntagabend würde ich sie am Flughafen abholen. Der tote Mann hätte nicht die geringste Auswirkung auf unsere Beziehung, da Andrea nicht zu meinen Kundinnen gehörte. Bei ihr durfte ich auch mal mies drauf sein oder eine Erkältung haben. Oder an Fraßdefekten leiden.
    »Ach, da ist sie ja!«, rief Lukas.
    »Du hast vorgestern meine Stunde vergessen!«, begrüßte Lydia mich entrüstet. Ihr Gesicht war knallrot, als hätte sie den Vormittag in der Sauna verbracht. So sah sie in letzter Zeit öfter aus. Peter hieß ihre Sauna. Peter hieß auch ihr Friseur, der für diesen Struwwellook verantwortlich war. Peter war anscheinend kein visueller Typ, sonst hätte er sie vielleicht darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihr T-Shirt linksherum trug. Excess baumelte an ihrer Kehle wie ein Namensschildchen. Sie hatte Recht, und das war mir sehr, sehr unangenehm. Die versäumte Pilatesstunde war nicht meine, sie war von Lydia, das hatte ich verdrängt, da ich sie zum vierten Mal in Folge abgehalten hatte.
    »Das tut mir leid«, stammelte ich und fächerte mir mit der Abendzeitung, die auf dem Tresen lag, Luft zu. Dabei entdeckte ich die Headline.
    »Du hättest wenigstens anrufen können!«
    Ich ließ die Zeitung neben mein Bein gleiten und klopfte sacht an meine Wade. Flipper verstand sofort.
    »Das wollte ich ja! Mein Handy hatte kein Netz!«
    »Erzähl mir doch nichts!«
    Ich schwieg. Ich hatte nicht vorgehabt, Lydia etwas zu erzählen. Wenn sie mir nicht mal glaubte, dass das Handy kein Netz gefunden hatte, würde sie erst recht nicht glauben, dass
ich eine Leiche gefunden hatte, besser gesagt: ein Opfer. So lautete die Bezeichnung im Regionalteil der Abendzeitung, die Flipper für mich aus dem Fitnessstudio transportierte.
    Auf meiner Handymailbox bat eine Frauenstimme um einen Rückruf zur Terminvereinbarung, ich sollte einige Fragen beantworten, wenn möglich noch in dieser Woche.
    Ich beschloss, am Montag anzurufen, frühestens, und ich würde den Kommissar selbst anrufen. Schließlich hatte er mir seine Karte überreicht, formvollendet cool zwischen Zeige- und Mittelfinger.
     
    »Was der Kommissar wohl macht?«, fragte ich Flipper, als wir abends von Fettkiller zwei nach Hause fuhren; diesmal mit dem Auto, ich hatte unterwegs Mineralwasser gekauft. »Ob ihm ausgerichtet worden ist, dass ich angerufen habe?« Flipper drehte den Kopf weg und weigerte sich, meine Finger anzustupsen, die ich durch das Trenngitter steckte.
    »Dann eben nicht«, sagte ich, »ist mir eigentlich auch lieber, er erfährt nichts davon, weil die Wolke bestimmt keine brauchbare Zeugenaussage war.« Versonnen beobachtete Flipper eine Pudeldame, die über den Zebrastreifen tänzelte. Was der Kommissar heute wohl machte?
    Donnerstag – der Ausgehtag schlechthin. Und ich? Das Leben konnte so verdammt schnell vorüber sein! Jetzt war Mai. So prall, so fruchtig, so überirdisch.

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