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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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stehen. Schaute den Ast an, dann mich, wieder den Ast. Knurrte. Bleckte die Zähne. Tollwut? Kommandoamnesie?
    »Flipper?«
    Er kratzte sich hinterm Ohr.
    Das war keine Bestie. Das war mein Hund. Er brauchte Führung. Eine Chefin. Keinen weichen Eierstock.
    Ich nahm den Ast und wollte ihn weit weg ins Gestrüpp schleudern, da sah ich … Blut. Getrocknetes schwarzes Blut im Moos und an einer aufgesplitterten hellen Stelle … was sollte das sonst sein? Ich packte Flippers Schnauze und versuchte, sie zu öffnen, doch er kehrte den Mastiff heraus und presste die Kiefer tonnenschwer aufeinander.
    »Was hast du gemacht?«
    Er legte ein paar Tonnen zu.
    »Auf!«
    Dumpf seufzend gab er nach.
    Kein Blut an Zähnen und Zahnfleisch.
    »Wo kommt das Blut her?«, fragte ich ihn. »Was hast du gemacht?« Meine Hände zitterten.
    »Du sollst nicht durch den Wald streunern! Das ist viel zu gefährlich!«
    Tock, tock, tock.
    »Wenn dich ein Jäger sieht!«
    Tock, tock, tock.
    »Weglaufen ist to-tal ver-bo-ten!«
    Tock.
    »Du bleibst jetzt hier. In meiner Nähe. Verstanden!«

    Flipper gähnte seine Anspannung weg und wedelte einlenkend.
     
    Am Hochsitz erinnerte nichts an den grausigen Fund. Die Alpen standen zum Greifen nahe zwischen den Bäumen im Föhn, blauweiß zerklüftet, eine Kulisse wie vom Fremdenverkehrsamt als Riegel vor Italien geschoben. Flipper zeigte ein besseres Erinnerungsvermögen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Ein leises Knurren entstieg seiner Kehle.
    »Schon gut«, tat ich so, als wäre hier alles völlig normal, ein schöner Freitagmittag, prädestiniert für einen Ausflug an den blau-, blau-, blau-en Starnberger See, tralalala, schön ist es, auf der Welt zu sein.
    Flipper hob den Kopf. Er witterte. Feucht glänzte seine schwarze Schnauze. Seine Nase fuhr Karussell. Er schaute mich fragend an. Als ich mich nicht rührte, kletterte er die Leiter zum Hochsitz empor. Natürlich hätte ich ihm das verbieten müssen. Es war viel zu gefährlich. Er könnte stürzen und sich verletzen, doch ich war fasziniert von seiner Geschicklichkeit und würde also auch den Eintrittspreis bezahlen: Ich würde ihm zurück auf die Erde helfen. Ich hatte ihn lang nicht mehr getragen, mal sehen, wie fit ich war, sein Gewicht schaffte ich bei den Kniebeugen locker, aber die Langhantel wedelte nicht und schleckte mir auch nicht über den Hals, und ich musste damit nicht über eine wacklige Leiter balancieren.
    Der Täter kehrt immer an den Tatort zurück … Galt das eigentlich auch für Kinder?

    »Simon! Was machst du denn hier?«
    »Ich warte auf euch! Gestern auch!«, sagte Simon, während er sein Gesicht in Flippers Fell vergrub und ihn umarmte. Seine Augen glänzten feucht.
    »Flipper, Flipper! Ich hab gewusst, dass du wiederkommst! Flipper! Bin ich froh, dass ich die Mutprobe bestanden habe!«
    Simon schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken grob über die Nase. »Der Kommissar hat gesagt, ich muss aufpassen. Deshalb hab ich mich ganz klein gemacht in der Ecke. Der Kommissar hat gesagt, ich soll mich mal umschauen, weil ich doch hier wohne. Und ich hab ja Zeit nach der Schule. Bei der Polizei haben sie nicht genug Leute. Das kann ich übernehmen, habe ich gesagt. Der Kommissar war total happy.«
    »Aha«, nickte ich verwirrt.
    »Die Luft ist rein«, sagte Simon. »Kannst auch hochklettern. «
    Tatsächlich. Die Luft war rein. Und das kam mir vor wie ein Wunder.
    Ich quetschte mich neben Simon. Er trug dasselbe bunte Hemd wie vor drei Tagen und eine grüne kurze Hose, Sandalen, keine Socken. Sehr blonde Haare. Sehr blaue Augen. Sehr zartes Gesicht. Fast wie ein Mädchen, in Milch und Honig gebadet. Flipper schleckte Süße von seiner Wange. Simon kicherte.
    »Wo ist eigentlich dein Hund?«, fragte ich.
    »Daheim.«
    »Was ist das für einer?«
    »Wie Flipper.«
    »Ein Rüde?«

    »Hm.«
    »Wie sieht er aus?«
    »Schwarz.«
    »Und wie groß ist er?«
    »So wie Flipper.«
    »Also ziemlich groß.«
    »Hm.«
    »Wieso nimmst du ihn nicht mit?«
    »Der ist krank.«
    »Und was hat er?«
    »Flöhe.«
    »Das ist doch nicht schlimm.«
    »Doch, es sind nämlich viele, ungefähr zwei Millionen.«
    »Aha.«
    »Die fressen sich durch die Haut. Deswegen muss er in Karawane bleiben.«
    »Verstehe«, sagte ich. »Und wie lange dauert das noch?«
    »Das kann sehr lange dauern.«
    »Verstehe«, sagte ich wieder und hätte am liebsten geheult. Ich kollidiere nicht gern mit meiner Vergangenheit. Ich finde Vergangenheit meistens total

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