Alle Vögel fliegen hoch
gehörte ein Leichen fressendes Moor zu einem John-Sinclair-Fan.
»Das ist, weil sie hier früher Torf gestochen haben«, erklärte Simon.
»Aha«, sagte ich noch mal. Torf stechen? Täuschte er sich da nicht im Bundesland?
»Kann ich die Beretta sehen?«, fragte Simon.
»Nein.«
»Und die Silberkugeln?«
»Nein!«
»Bitte!«
»Nein. Sonst verlieren sie ihre Zauberkraft. Die hole ich nur raus, wenn wir sie brauchen.«
»Aber jetzt steigen wir doch runter.«
»Da brauchen wir sie nicht«, behauptete ich – und war mir nicht halb so sicher, wie ich vorgab.
4
Als Flipper mir am Samstagvormittag den Brief überreichte, wusste ich sofort, dass er keine guten Nachrichten brachte – von der Wahrung des Postgeheimnisses hält er nichts. Seine Rute hing schlaff nach unten, obwohl er sonst bei Begegnungen mit Briefträgern immer wedelt, da er meistens ein Leckerli angeboten bekommt, das ich mir aushändigen lasse, um es weiterzugeben. Ich winkte dem Briefträger zu, der inbrünstig, laut und falsch pfiff, wenn er in den Hof fuhr, damit ich die Terrassentür für Flipper öffnete und er Briefkasten spielen konnte, und legte den Brief erst mal auf den Tisch. Leider gelang es mir nicht, den Absender zu übersehen. Die letzte Mieterhöhung hatte ich im Januar erhalten. Eine Mieterhöhung wäre kein Problem für mich gewesen. Ich verdiene genug, um angenehm zu leben, und in in den Urlaub will ich ohnehin nicht, ich hasse Veränderungen. Der Briefträger bat um eine Unterschrift. Kein gutes Zeichen.
»Na, hat Flipper mal wieder jemanden zerfleischt?«, grinste er mit Blick auf den Absender: eine Anwaltskanzlei.
»Ja!« Ich fletschte die Zähne: »Einen Postboten.«
Das Schreiben drohte mir eine gravierende Veränderung an. Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass Hiobsbotschaften immer zum Wochenende eintreffen? Mein
Vermieter kündigte mit seiner üblichen Kanzlei im Rücken Eigenbedarf an. Dem offiziellen Schreiben war ein handschriftlicher Zettel beigefügt, liebe Frau Fischer und lieber Flipper, das fand ich so nett, dass ein Kloß in meinem Hals wuchs. Ich mochte Herrn Kammerer. Wer hat schon so einen zuvorkommenden Vermieter, der nachträglich eine Terrassentür einbauen lässt, damit der Hund, dessen Haltung laut Mietvertrag verboten ist, schneller und nach eigenem Gutdünken ins Freie kommt? Auch diese Sondergenehmigung hatte sich Flipper selbst besorgt, indem er Herrn Kammerers Jaguar E, der vor unserem Haus schon mal verkratzt worden war, eine Stunde lang bewacht hatte, bei Bedarf auch mit tief grollendem Knurren, als befände sich eine Tonne Wiener Würstchen darin. Passanten wechselten die Straßenseite, und hin und wieder hörte man schrille Besänftigungen: Ja gell, du bist ein ganz ein feiner Kerl.
Am nächsten Tag rückten Handwerker an, rissen das Fenster raus und bauten eine Terrassentür ein. Selbstverständlich wollte Herr Kammerer nicht in meine Puppenwohnung einziehen, aber die Tochter seiner neuen Freundin studierte in München. Vielleicht zum nächsten Semesterbeginn? , hatte Herr Kammerer sanft angefragt, und das anwaltliche Schreiben erklärte mir den Sachverhalt mit allen nötigen und wohl auch einigen unnötigen Paragraphen, die mir gar nichts sagten, sondern mich einschüchterten, was mich ärgerte.
Nach der Rückenschule für Senioren setzte ich mich an den Laptop, checkte den Wohnungsmarkt und kam immer schlechter drauf. Der Immobilienmarkt in der Zeitung war
noch niederschmetternder als der im Netz. Und am Abend kam dann das große Heulen. Ich wollte hier nicht weg. Ich mochte die Gegend. Flipper war im ganzen Viertel bekannt und ging auch schon mal alleine spazieren. Frau Feigl aus dem Eckhaus sammelte seine Hinterlassenschaften auf dem Trottoir ein, sobald – selten!!! – was passierte, weil er allein nicht über die Straße, sprich an die Isar, gehen sollte, was er auch nur trieb, wenn er verführt wurde. Die Liebe ist gefährlich und kann tödlich enden. Frau Feigl brachte mir die kleinen Tütchen mit Flippers Hinterlassenschaften höchstpersönlich vorbei. Sie warf sie in keine Tonne, sondern legte sie vor meine Tür — bei einem auffälligen Befund klebte ein gelber Zettel darauf: heute dünnflüssig oder klopsig . Aber nicht vorwurfsvoll, nein, mitfühlend und nachbarschaftlich. Ich wollte das alles nicht verlieren. Einen alten Baum entwurzelt man nicht. Außerdem wohnte ich in der Mitte meiner Jobs. Ich unterrichtete in Schwabing, am Ostbahnhof, in
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