Alle Vögel fliegen hoch
Simon.
Er schaute mich an. Sehr blauer Blick. Und dann lächelte er so, wie nur Kinder lächeln können – und Hunde. Vertrauensvoll und aufrichtig, ohne den allerkleinsten Hintergedanken, einfach ganz da und das Herz weit offen. Ich riss eine Packung Übersprungshandlungen auf und räusperte mich ein paarmal.
»Erzähl mir doch mal was von dem Toten«, bat ich.
»Dem Klaus Hase?«
In dem Artikel aus der Münchner Abendzeitung hieß der Mann, der im Landkreis Starnberg wohnte, Klaus H. und war zweiunddreißig Jahre alt, was mich seltsam berührt hatte: jünger als ich.
»Was hat er gearbeitet?«, fragte ich.
Simon zuckte mit den Schultern.
»War er viel zu Hause?«
»Nein.«
»Wo hat er gearbeitet?«
»Weiß nicht.«
»Hat er oft Besuch gehabt?«
»Weiß nicht.«
»Aber wenn du nebenan wohnst, musst du das doch wissen, du bist doch der Helfer vom Kommissar.«
»Der Besuch ist immer in der Nacht gekommen, da hab ich ihn ja nicht sehen können. In einem schwarzen 69er Cadillac mit V8.«
»Interessant«, sagte ich ernst.
»Und außerdem wären wir fast da eingezogen, wo der gewohnt hat. Aber die Widmanns haben uns die Wohnung nicht vermietet. Also müssen wir weiter bei den Schlatters wohnen, in dem Haus, was uns mal gehört hat. Sie haben es uns weggenommen. In Starnberg wohnen nämlich die meisten Millionäre Deutschlands. Die haben alle dicke Autos und sogar Flugzeuge und Yachten. Die haben …«
Kein Haus. Kein Auto. Kein Boot. Ich sah die Schrift auf dem T-Shirt vor mir. War das eine Provokation?
»Fast wären wir auch Millionäre gewesen. Aber jetzt wohnen wir in der kleinen Einliegerwohnung. Und das als Deutsche. Im eigenen Land! Wir holen uns alles zurück,
was uns gehört, sagt mein Pa. Und außerdem würden sich andere alle zehn Finger nach so einer Ferienwohnung abschlecken. Die Widmanns haben dem Hase die Wohnung vermietet, weil sie uns eins auswischen wollten. Jetzt müssen meine Eltern jeden Abend die Couch aufklappen im Wohnzimmer, und mein Zimmer ist so klein, dass das Bett gerade reinpasst, das war nämlich die alte Abstellkammer. «
»Hm«, machte ich, während ich zu verstehen versuchte, worüber Simon sich so empört beschwerte. Simons Eltern hatten ihr Haus verkaufen müssen und es war ihnen nur eine Ferienwohnung geblieben?
»Wir holen uns alles zurück, was uns gehört!«, zeigte mir Simon das Gesicht seines Vaters. Kein schöner Anblick.
»Und was arbeiten deine Eltern?«
»Mein Pa ist jetzt angestellter Elektriker, und meine Ma macht Buffets, aber immer nur abends, das ist besser bezahlt, und dann vermieten wir die Wohnung an Preußen und Ossis und haben keine Schulden mehr. Dann krieg ich vielleicht auch einen Bruder. Das wäre besser als eine Schwester, weil der meine Klamotten anziehen kann und wir uns Geld sparen.«
So lernte ich also nicht nur Simon, sondern auch seine Eltern kennen, und weil Simon ein Junge war, verlog er sich ein wenig und erzählte, dass seine Mutter eine Tierhaarallergie hatte, ich als Mädchen hätte mich hier nicht verlogen, wer lügt, braucht einen wachen Verstand, ein sehr gutes Gedächtnis und muss perfekt improvisieren können – das alles erfordert Multitasking, und da haben Jungs nun
mal die schlechteren Landkarten, auch wenn sie die angeblich besser lesen können.
»Erzähl mal, was du von Klaus Hase weißt«, ließ ich nicht locker. »Was war er für ein Mensch? War er nett zu dir? Hat er mit deinem Hund gespielt? War er beliebt?«, versuchte ich in Worte zu fassen, was mich beschäftigte, auch wenn ich es nicht wirklich wahrhaben wollte: Der Tote ließ mich nicht los. Waren wir uns vielleicht schon einmal begegnet? Irgendwann einmal könnte er in der Schlange bei der Eisdiele am Pariser Platz hinter mir gewartet haben, vielleicht hatte er gesagt: »Das Gleiche wie die Dame, auch eine Kugel Schokolade und Pistazie«, wir könnten an einer Ampel nebeneinander gestanden sein, oder er hatte gebremst, weil ich mit Flipper über die Straße spazierte, es gab unzählige Möglichkeiten, wie sich unsere Wege gekreuzt haben könnten, bevor wir uns zum einzigen Mal bewusst wahrnahmen, beziehungsweise ich ihn – wenn man davon ausging, dass mit dem Tod auch die Wahrnehmung endet.
»Also?«, fragte ich Simon.
»Der war komisch. Der war immer allein. Ein Eigenbrotesser. «
»Ein was?«
»Eigenbrotesser.«
»Wie bitte?«
Simon schaute finster drein. Da begriff ich. »Du meinst ein Eigenbrödler?«
»Ja, ungefähr.«
»Wenn jemand
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