Alle Vögel fliegen hoch
Frau, »ich wusste das mit dem Hund nicht, aber das passt ja ganz wunderbar in dieses Bild hier«, sie hob die Arme wie jemand, der nicht weiterweiß. »Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus. Nichts ist so, wie ich vermutete, aber bitte, bitte kommen Sie doch herein. Wir können uns gerne duzen, unter anderen Umständen wären wir bestimmt nicht auf die Idee gekommen, uns zu siezen«, sie seufzte, »unter anderen Umständen … Wie geht es Ihnen denn? Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, wirklich sehr …«
»Ich heiße nicht Yvonne«, stieß ich hervor, ohne es zu wollen. Ich konnte nicht anders.
Sie trat einen Schritt zurück, als wäre sie weitsichtig und könnte meinen Namen nur aus der Distanz entziffern. »Nicht?«
»Nein«, sagte ich und fühlte die Erleichterung, endlich die Wahrheit zu sagen in diesem Hof.
»Verzeihung … dass ich Sie … Ich habe Sie verwechselt.«
Sie trat noch einen Schritt zurück und spießte ihr Du mit einem Stöckel auf.
»Das macht nichts.« Ich streckte meine Hand vor, zögerte kurz, blieb bei der Wahrheit. »Franza Fischer.«
Sie ergriff meine Hand erneut. »Martina Hase-Berg.«
»Und das ist Flipper«, sagte ich.
»Wenn Sie zu den Widmanns wollen«, begann Martina, um Fassung bemüht, »die kommen erst gegen vier zurück.«
»Hm«, machte ich.
»Ich kann Ihnen bestimmt nicht helfen, ich bin erst seit heute Morgen da, ich …«, sie schluchzte leise und rieb ihre Hände aneinander.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte ich.
»Ach, Sie wissen es?«
»Ja.«
»Haben Sie Klaus gekannt?«
»Nein, ich habe Ihren Mann nicht gekannt«, sagte ich mit Nachdruck.
»Klaus ist mein Bruder.«
»Verzeihung.«
»Das macht nichts, das können Sie ja nicht wissen – Sie kannten ihn also nicht?«
»Nein.«
»Und zu den Widmanns wollen Sie auch nicht?«
Ich nahm die Abkürzung. »Ich bin vielleicht die Nachmieterin dieses Hauses.«
»Nach-mie-ter-in?«, wiederholte sie empört. Ihre weichen weinerlichen Züge strafften sich, und sie starrte mich an, als wäre ich schuld am Tod ihres Bruders.
Ich lieferte den passenden Text dazu: »Ich wusste nicht,
dass Ihr Bruder gestorben ist. Ich habe dieses Haus hier gestern zufällig entdeckt …«
»Gestern?«, rief sie aufgebracht. »Gestern!«
Ich nickte. »Ich habe einfach mal nachgefragt. Wie man das eben so macht, wenn man eine Wohnung sucht.«
Martina Hase-Berg stemmte die Fäuste in die Seiten. »Und Sie waren drin? Der Bauer hat Sie reingelassen?«
Ich nickte.
»Aber es ist eingebrochen worden!« Für diesen einfachen Satz hätte ich mich am liebsten bedankt. Ja. So war es. Ein Einbruch. Endlich jemand, der das bestätigte.
»Das habe ich vermutet, doch Herr Widmann hat davon nichts hören wollen«, blieb ich bei der Wahrheit. Eine Wohltat!
»Was für eine Unverschämtheit! Klaus war superordentlich! Schon als Kind! Sein Spielzeug hat er jeden Abend selbst aufgeräumt! Meine Mutter hat manchmal im Scherz gemeint, mit ihm würde was nicht stimmen, weil er, weil er …«, sie schluchzte.
Ich handelte, ehe ich dachte – und nahm die fremde Frau in den Arm. Sie ließ es geschehen. Ich spürte Nässe an meinem Oberarm und musste an die Maden denken. Wie nah ich dieser Familie schon gekommen war. Erst der Bruder, dann die Schwester. Leichensubstrat und Tränenflüssigkeit.
Martina fasste sich. »Bitte entschuldigen Sie. Ich bin … völlig durch den Wind. Es ist gut, dass Sie hier sind. Dann kann ich das mal aufklären. Mein Bruder war ordentlich, hören Sie, to-tal ordentlich! Es ist eine Frechheit, wenn dieser stupide Bauer behauptet, mein Bruder hätte die Wohnung
in einem solchen Zustand hinterlassen! Jetzt verstehe ich auch, warum er mich so drängt. Dabei habe ich ihm angeboten, die Miete weiterzuzahlen. Das hat ihn gar nicht interessiert. Er will das Haus so schnell wie möglich leer haben. Er hat sogar das Siegel erbrochen. Deswegen hockt er jetzt auch bei der Polizei. Er hat behauptet, dass er sich das nicht leisten könne – aber die Miete übernimmt die Staatsanwaltschaft in so einem Fall, das hat mir die Polizei versichert. « Sie schüttelte den Kopf und sprach eher zu sich als zu mir. »Jetzt verstehe ich, warum es plötzlich so schnell gehen soll. Am Samstag am Telefon hat er noch gesagt, ich könnte mir so viel Zeit lassen, wie ich will. Heute Morgen fragt er, ob ich bis Mittwoch fertig wäre. Ich soll einfach alles auf den Hänger werfen«, sie wies zu einem Traktor, der quer vor dem Hühnerstall
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