Alle Vögel fliegen hoch
verstand sie. Ich hatte gar niemanden mehr. Ich wusste, wie sich das anfühlt. Ich legte meine Hand auf ihre. Sie schüttelte sie ab. Ich verstand sie noch besser. Ihre Lippen waren straffgezogen wie ein schmales Gummiband. »Ich muss einen Lastwagen organisieren, der mir das Ganze nach Köln schafft.«
»Sie kommen aus Köln?«
»Mein Mann, mein Ex-Mann, ist Kölner. Ich bin in Berlin geboren, später lebten wir vier Jahre in Bad Tölz. Dort ist Klaus geboren. Wir sind weggezogen, als mein Vater starb.« Sie seufzte »Es ist mir ein Rätsel, wohin ich das ganze Zeug schaffen soll … Oder ich lasse es einfach da. Was meinen Sie, bekomme ich dann Schwierigkeiten?«
Ich wollte lieber ein leeres Haus übernehmen und bemühte mich um Neutralität. »Es könnte sein, dass der Vermieter in diesem Fall berechtigt wäre, eine Firma zu beauftragen und Ihnen die Kosten in Rechnung zu stellen.«
»Ja, ja, und falls es noch nicht so ist, dann wird schnell ein Gesetz erfunden. Klaus hat keinen Cent Erspartes, nichts, rein gar nichts hat er zurückgelegt! Er hat nicht mehr gearbeitet! Schon seit einem halben Jahr. Nicht, dass sie ihn entlassen hätten, nein, er hat gekündigt. Er hatte keine Lust
mehr. So steht es in seinem Kündigungsschreiben. Vorhin habe ich es in der Hand gehalten. Das wusste ich nicht. Ich hätte natürlich versucht, ihm das auszureden. Das ist doch Wahnsinn in der heutigen Zeit. Er hat sich nicht mal arbeitslos gemeldet. Keine Ahnung, wie er sich das vorgestellt hat. Anscheinend hat er sich nur noch für seine Vögel interessiert. Das kann man doch nicht machen, man muss sich doch einen Blick für die Realität bewahren. Ein Hobby ist schön und gut, und wer eins hat, kann sich glücklich schätzen, da sage ich doch gar nichts dagegen, aber er hätte zum Beispiel auch irgendwas mit Vögeln studieren können! Nein, das war ihm zu trocken. Er hat ja schon immer alles besser gewusst. Reden konnte er, mein kleiner Bruder. Dafür habe ich ihn immer bewundert. Der hat sich die Welt zurechtgeredet. ›Ich muss den Greifvögeln meine Stimme geben‹, hat er gesagt. Seine Stimme!
Martina nestelte an ihrem durchfeuchteten Taschentuch herum. Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass ich ihren Bruder gefunden hatte und dass er ausgesehen hatte wie schlafend und nicht wie jemand, der heimtückisch erschlagen worden war. Ich hätte ihr auch gern gesagt, dass ich überzeugt davon war, dass der Kommissar sich mit all seiner Kraft um den Fall kümmern würde. Sogar Moppelchen würde ihr Bestes geben, auch wenn sie nicht viel zu bieten hatte. Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich es mutig von ihrem Bruder fand, ein solches T-Shirt anzuziehen, und aus einer Laune heraus eine sichere Stelle zu kündigen und dass ich oft an ihn dachte. Dass ich zum Beispiel seit der Begegnung mit ihrem Bruder im Wald ein Unwohlsein verspürte und unter jedem Strauch eine Leiche vermutete. Dass ich
schlecht schlief und mein altes Leben zurückhaben wollte, das ich nie mehr langweilig nennen würde. Und dass ich diesen verhängnisvollen Spaziergang doch nicht rückgängig machen wollte, weil ich dadurch Felix Tixel kennengelernt hatte, mit dem ich zwar keine nähere Bekanntschaft anstrebte, doch es tat einfach gut, einen Menschen zu treffen, in dessen Badezimmer vielleicht wilde Pferde weideten, was ich einem Mann bislang nicht zugetraut hatte. Aber mir fiel keine Überleitung ein, und keinesfalls wollte ich zu den hinterhältigen Bayern gehören, die töten und rauben, Siegel erbrechen und lügen.
»Und Sie haben sich also gestern einfach mal hier umgehört? «, fragte Martina. Täuschte ich mich, oder schwang da Misstrauen mit? Mir wurde heiß. Lügen haben kurze Beine. Wenn ich so weitermachte, würde ich bald auf Stümpfen durchs Leben wanken, und das fühlte sich nicht gut an, weder physisch noch psychisch.
»Was sagt die Polizei eigentlich?«, nutzte ich die einzigartige Möglichkeit, Akteneinsicht zu nehmen. »Gibt es einen Verdacht, ein Motiv? Haben die schon jemanden festgenommen? «
»Man weiß nur, dass mein Bruder noch gelebt hat, als er vom Hochsitz stürzte. Man hätte ihm helfen können. Er ist nicht gleich gestorben. Es hat eine Weile gedauert. Er hat eine Verletzung am Kopf, die darauf schließen lässt, dass er niedergeschlagen wurde. Vorher. Es muss eine Auseinandersetzung gegeben haben. Wahrscheinlich ist Klaus dann weggelaufen und auf den Hochsitz geklettert. Dort hat ihn jemand hinuntergezerrt oder
Weitere Kostenlose Bücher