Alle Vögel fliegen hoch
stand. »Er würde das dann schon wegfahren. Wegfahren!«
»Von mir aus pressiert es nicht!«, beeilte ich mich zu versichern.
»Sie können gerne reinkommen. Sie wollten wahrscheinlich das Haus noch mal anschauen? Bisschen was ausmessen? Für Ihre neue Existenz?«, ihre Stimme klang gepresst.
»Nein danke«, lehnte ich ab.
»Er hat einen Zweitschlüssel zurückbehalten, wie mir die Kommissarin sagte. Das ist eine einzige Spezlwirtschaft hier. Es ist genauso, wie man überall hört. Dieses Bayern ist ein einziger korrupter Haufen.«
Ich staunte. Immerhin war ich hier geboren. Aber korrupt? Das müsste mir doch aufgefallen sein! Korrupt war man in Kuba, Kenia, Kolumbien. Doch nicht bei uns. Da
hatte man vielleicht Beziehungen oder gute Freunde oder einfach Massl, sprich: Glück.
»Ich weiß nicht, wie mein Bruder das ausgehalten hat«, fuhr Martina fort. »Es ist diese ganze Stimmung hier. Dieses Bierselige, Verschlagene, Hinterhältige. Die stecken alle unter einer Decke. Meiner Meinung nach hätte die Kommissarin dieses Bauernpack sofort verhaften müssen. Ein Siegelbruch ist ein Verbrechen! Aber nein – sie sagt mir, dass sie das Siegel ohnehin entfernen wollte. Das glaube ich doch nicht! Das hat die bloß im Nachhinein behauptet, weil sie dabei erwischt worden ist, eine Straftat zu vertuschen. Die fährt doch nicht im Ernst am Sonntag hierher, um das Haus zu entsiegeln und die Schlüssel zurückzugeben. Ich bitte Sie! Das kann man telefonisch klären und per Post, ich habe mich erkundigt – ja, ja, da wird im Nachhinein alles so hingebogen, wie man es eben braucht. Das hat er jetzt davon. Er musste ja unbedingt hierher. Er hat sich nur an Orten beworben, wo er seine Vögel um sich haben konnte. Ich habe gedacht, dass das so ein Kindheitstraum bei ihm wäre – Frauen im Dirndl. Schließlich hat er seine ersten Jahre in der Gegend verbracht – und da war die Welt noch in Ordnung. So habe ich mir das zurechtgereimt. Er war ja noch so klein damals. Da merkt man doch gar nicht, was wirklich abgeht. Für mich war das keine schöne Zeit in Bayern. Ich war alt genug, um mitzukriegen, dass meine Eltern dauernd stritten. Was willst du denn da unten, habe ich ihn gefragt, warum muss es gerade Bayern sein, Vögel gibt es überall, auch in der Lüneburger Heide und in den neuen Bundesländern, gerade da haben sie doch deine heiß geliebten Greifvögel, aber nein, es musste der Starnberger See sein, wo er als kleiner Junge
mit Papi flache Kiesel übers Wasser flitzen ließ. Und jetzt wissen wir, warum. Damit er ermordet wird. Heimtückisch erschlagen. Mein kleiner Bruder.« Sie schniefte »Augenblick bitte«, rannte nach oben und kam nicht mit einer Packung Tempos, wie ich vermutet hatte, sondern mit Marlboro light zurück, die sie mir unter die Nase hielt.
»Nein danke«, sagte ich automatisch, während ich mit der Verarbeitung dieser Information beschäftigt war. Heimtückisch erschlagen? Wieso erschlagen?
Martina stieß den Rauch aus, als würde er ihr dabei helfen, Trauer aus der Seele zu pumpen. »Ich habe nicht gut auf ihn aufgepasst«, sagte sie und legte die Zigarette mit drei tiefen Zügen bis zur Hälfte in Asche.
»Ihr Bruder war doch erwachsen«, wagte ich einen zarten Einspruch und überlegte, ob ich nach der Todesursache fragen sollte. Wieso erschlagen? Aber was ging mich das an. Tot ist tot und Amen.
»Er hätte ja mal anrufen können. Oder ich. Wir haben doch nur noch uns, seit meine Mutter im Heim ist. Haben Sie Geschwister?«
»Nein, leider nicht.«
»Natürlich ist mir das komisch vorgekommen, dass er sich so lange nicht meldet, aber ich hatte einfach keine Lust mehr. Immer ich. Er kann doch auch mal von sich hören lassen, dachte ich. Dann hat mich die Polizei angerufen, und jetzt hocke ich in der Wohnung meines Bruders, der mir immer fremder wird, und soll da drin klar Schiff machen. Ein bisschen viel auf einmal.«
»Haben Sie jemanden, der Ihnen helfen kann?«
»Helfen?«, wiederholte sie höhnisch. »Mein Mann, mein
Ex-Mann ist mit seiner ehemaligen Assistentin in den USA. Dort wird er wahrscheinlich auch unseren Sohn besuchen, der ist für ein halbes Jahr Austauschschüler. Die werden sich eine schöne Zeit machen. An mich denkt doch niemand. Ich kriege das schon hin. Mami macht das schon. Tini ist ja so taff im Organisieren und hatte eh nie viel Kontakt zu ihrem Bruder. Aber er ist doch mein einziges Geschwister!«, rief Martina, und die Wörter schnitten sich mir in den Leib. Ich
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