Alle Vögel fliegen hoch
Flipper am Starnberger See. Ich hatte die Leiche eher beiläufig erwähnen wollen, doch als Andrea mich anstarrte, als hätte ich ein zweieurostückgroßes Loch in der Backe, schaltete ich einen Gang runter, fädelte mich rechts ein und beschrieb die Fliegen und Maden. Andrea ist nicht nur Psychologin, sie hat auch Medizin studiert. Ich erhoffte mir klare Worte. Stattdessen legte sie mir ihre Hand aufs Bein und murmelte etwas wie: »Das ist ja grauenhaft.«
Dann sollte ich sofort anhalten. Auf der Autobahn? Das erschien mir zu dramatisch. Ich nahm die nächste Ausfahrt, entdeckte, dass ich mich auf vertrautem Terrain befand, und fuhr weiter Richtung Feldmochinger See. Um diese Uhrzeit wäre es kein Problem, Flipper laufen zu lassen, wahrscheinlich würden ein paar Leute grillen, aber niemand würde sich beschweren. Hunde an Badeseen sind zuweilen ein Ärgernis, und weil es zuhauf antiautoritär erzogene Hunde gibt, glaubt mir niemand, wenn ich behaupte: »Der folgt.«
Flipper war unglücklich, weil Andrea ihm nicht so viel Aufmerksamkeit schenkte wie gewöhnlich. Sie streichelte ihn fast ein bisschen mechanisch. Er schob ihren Arm beiseite
und trollte sich. Andreas Hand zitterte, als hätte sie die Leiche gefunden. Das nervt mich an Psychologen. Sie nehmen einem ständig die eigenen Gefühle weg, weil sie besser zu wissen glauben, was man wann fühlen muss, und wenn man das nicht tut, dann kleben sie einem ein Etikett auf die Stirn und machen einem das Fühlen vor. Selbstverständlich haben sie als Dolmetscher der Seele immer Recht.
Ich wollte Andrea die Rückkehr aus dem Urlaub nicht verderben und riss mich zusammen. Ich erzählte ausführlich von Simon – das aufgeweckte Kind, das sich tapfer allein durchs Leben schlägt – und wie ich die Polizei gerufen hatte, und ganz zum Schluss erwähnte ich kurz den Kommissar.
Andrea zog die linke Augenbraue nach oben. Alarmstufe rot. Ich redete ohne Pause weiter.
»Die Polizisten haben mich mehrfach gefragt, ob ich vom Kriseninterventionsteam betreut werden möchte«, lenkte ich die Aufmerksamkeit auf Andreas Kompetenzbereich, um den Ball knapp über dem Boden zu spielen.
»Jetzt bin ich ja da«, sagte Andrea.
»Mir geht es gut«, sagte ich.
»Du siehst nicht gut aus.«
»Ist das ein Wunder?«, fragte ich, »bei einem solchen …«, ich zögerte, denn einen Schock wollte ich Andrea nicht gönnen, »… Vorkommnis würde jeder schlecht aussehen.«
Andrea schüttelte den Kopf: »Du hast eine Leiche gefunden! Stell dich den Tatsachen! Das ist nicht irgendein Vorkommnis, das ist ein Toter. So etwas ist nicht so einfach hopplahopp wegzustecken! Besonders, wenn man bedenkt, dass es nicht der erste Tote in deinem Leben ist. Kann gut
sein, dass durch dieses Erlebnis Erinnerungen wachgerufen werden, die …«
»Ich habe nichts damit zu tun! Ich habe ihn nur gefunden«, stellte ich klar und wünschte mir, so wäre es auch.
Andrea hob die Hände. »Okay, Franza. Meinetwegen. Das ist deine Art, damit fertigzuwerden. Aber wir sprechen hier über einen heimtückischen Mord!«
»Woher weißt du das jetzt schon wieder?«, entfuhr es mir. Auch das ist typisch Psychologe. Sie haben immer gleich eine Story parat. Wahrscheinlich ahnte Andrea, warum Klaus Hase gestorben und wer der Mörder war, irgendeine verwickelte Familiengeschichte, bei der Missbrauch im vierten Glied das morphogene Feld beherrschte.
»Na, wenn er da unterm Hochsitz liegt«, rechtfertigte sie sich.
»Er könnte gestürzt sein«, widersprach ich.
»Ich glaube, er ist erschossen worden«, behauptete Andrea. »Von einem Jäger.«
Das fand ich gelinde gesagt dreist. Sie war nicht am Tatort gewesen, sie hatte die Leiche nicht gesehen, ich jedenfalls – und ich war dort – hatte keinen Einschuss entdeckt, aber vielleicht befand sich der am Rücken. Ich weigerte mich, ihrer Intuition zu vertrauen. Intuition, so hießen ihre Verdachtsmomente, und da sie studiert hat, musste man dran glauben. Bei Flipper hieße es Instinkt und wäre niedrig. Wenn ich selbst eine Idee habe, ist das meistens Sublimierung oder verdrängt oder das Falsche.
Mittlerweile waren wir im FKK-Bereich angelangt. Andrea setzte sich neben mich ans Ufer.
»Es ist nicht so, dass ich das alles so einfach wegstecke«, begann ich zögernd.
Andrea nickte mitfühlend.
»Ich finde, dass ich ganz gut zurechtkomme. Das Einzige …«
»Ja?«, fragte sie und beugte sich vor.
»Das sind diese Bilder.«
»Welche Bilder?«
»Besonders
Weitere Kostenlose Bücher