Alle Vögel fliegen hoch
-geschüttelt, oder er ist aufgrund
der ursprünglichen Verletzung gestürzt. Das weiß man nicht. Aber man weiß, dass er gelebt hat. Mein Bruder hat gelebt! Klaus hätte sofort Hilfe gebraucht. Derjenige, der ihn liegen ließ, hat seinen Tod zu verantworten.«
Schlagartig wurde mir übel. Eine zweite Stimme meldete sich in meinem Kopf. Ja, aber nicht als du dort warst, da war er bereits tot, definitiv. Lebendige Menschen haben keine flaschengrünen Arme.
Ja, das stimmt, dachte die Aktienmehrheit meines Ich, dennoch war diese Nachricht ungeheuerlich. Er hätte gerettet werden können. Irgendjemand hatte ihn schwer verletzt liegen lassen. Wie brutal, grauenhaft und entsetzlich … Und wenn Klaus aufgewacht, stöhnend und um Hilfe rufend durch die Brombeeren gerobbt war … Was für ein schrecklicher Tod. Aber nein, nein, so war es nicht! Er hatte in den Brombeeren gelegen, als hätte er sich nicht mehr bewegt, als hätte er nicht um Hilfe gerufen oder Schmerzen gelitten. Friedlich hatte der Lumpenhaufen ausgesehen. Das musste ich Martina sagen. Aber wie?
»Was unternimmt die Polizei?«, fragte ich erst mal.
»Es gibt eine Ermittlungsgruppe, die sich um den Fall kümmert. Sie haben wohl einige Spuren … aber nichts Konkretes. Ich konnte ihnen nicht weiterhelfen, weil ich«, sie räusperte sich, »nicht weiß, wer mein Bruder war. Bis letzte Woche habe ich ihn für einen jungen Mann gehalten, der das Leben in vollen Zügen genießt. Ich dachte, er amüsiert sich in Bayern mit jungen Frauen im Dirndl und Vögeln«, sie stockte, grinste dann trotzdem. Die Grimasse, die sie mir dabei zeigte, warf mich völlig aus der Bahn. Das Leid wühlte sich wie eine Ameisenstraße durch ihre Züge. Zum ersten
Mal entdeckte ich eine Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Toten – in der Spur der Verwüstung.
»… Ich habe ihn für sein freies Leben beneidet. Ich wusste doch nicht, dass er keine Arbeit mehr hat. Und dann erfahre ich von der Polizei, dass er in den letzten Monaten einen Falknerkurs gemacht hat. In Meckpomm. Wissen Sie, was das kostet? Ich habe nie verstanden, was an Vögeln so toll sein soll. Schon als kleiner Junge hat er sie ständig beobachtet, ich fand das so unhygienisch, all diese Federn, die er sammelte und …«
Falken! Der Wanderfalke! Wie im Fixierbad tauchte das Bild in den Tiefen meiner Erinnerung auf. Zuerst unscharf, dann materialisierte sich der Waldschrat heraus, den ich getroffen hatte, als ich zum ersten Mal in dieser Gegend spazieren war. Auch er war von Vögeln begeistert. Aber er war nicht Klaus Hase gewesen, er war viel älter, und Klaus hatte damals noch gelebt.
Ich war mit Flipper den See entlanggestreift, wahrscheinlich waren wir sogar in der Nähe des Hochsitzes, doch den entdeckte ich erst eine Woche später. Ich erinnerte mich genau, wie ich hinter Flipper hergejagt war, dem ich erlaubt hatte, mit einem Stock vor mir wegzurennen. Völlig außer Atem ließ ich mich auf einem kleinen Hügel ins Gras fallen. Keuchend schaute ich in den Himmel, wo ein paar Schäfchen weideten. Was für ein Frühling!
Flipper legte sich neben mich ins Gras, streckte alle viere von sich, wälzte sich hin und her und stupste mich an. Ich kraulte seine samtigen Ohren. Ein Schwarm Vögel zog am Himmel vorbei. Flipper beobachtete sie aufmerksam. Ja, er
hatte Recht, hier stimmte etwas nicht. So viele Vögel auf einmal sah man sonst nur im Herbst, wenn sie sich sammelten, um zu verreisen. Dies hier war kein Formationsflug, es war eine wabernde Masse, die mich an die unendliche Acht erinnerte. Mal schwappte sie nach links, mal nach rechts. Ein Vogel flog immer wieder rein und raus, der Chef? Nein, kein Chef. Es war ein Angreifer, und nun ging alles ganz schnell. Es gelang dem Angreifer, einen Vogel aus dem Pulk herauszutreiben und zu isolieren. Panisch flatterte der Vogel hinter seinem Schwarm her, da schoss der größere Vogel heran, ließ sich im Sturzflug auf sein Opfer fallen, packte es mit den Krallen in der Luft und verschwand hinter einem Waldstück. Mir stockte der Atem. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Flipper witterte. Er hob den Kopf und lauschte mit seiner empfindlichen Nase. Vielleicht hörte er die Todesschreie des Vogels? Es ist auch eine Gnade, mit einem minderwertigen Gehör ausgestattet zu sein.
Wir waren auf dem Weg zum Auto, als plötzlich eine Gestalt vor uns auftauchte. Der Mann um die siebzig trug dunkelbraune Kleidung, einen Hut und einen grauen Vollbart, der bis zu seiner Brust
Weitere Kostenlose Bücher