Alle Vögel fliegen hoch
Eier zu Waisen wurden.
»Jetzt muss ich wirklich los«, sagte Herr Holzinger.
»Ich habe noch eine Frage: Kannten Sie Klaus Hase?«
Herr Holzinger überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. »Nein, ist mir kein Begriff.«
»Ein junger Mann. Er hat in Wampertskirchen gewohnt«, ich versuchte es trotzdem. »So hat er ausgesehen.« Ich kramte das ausgeschnittene Zeitungsbild hervor, das ich seit einer guten Woche in meinem Portemonnaie spazieren trug.
»Tut mir leid. Am besten, Sie fragen in der Geschäftsstelle, die haben die Mitgliederlisten.«
»Und wo kann ich den Herrn Metzger finden?«, fragte ich nach dem Waldschrat.
»Der ist jetzt in unserer Auffangstation. Morgen gibt er in unserer Geschäftsstelle einen Einblick in das Schiften.«
»Stiften?«
»Schiften! Das ist eine jahrhundertealte Methode aus der Falknerei, bei der einem Vogel neue Federn eingesetzt werden, damit er wieder fliegen kann.«
Er überreichte mir einen Flyer. »Da steht alles über uns drin. Mitgliedsbeitrag fünfzig Euro im Jahr, ermäßigt die Hälfte, Spenden jederzeit willkommen und Hilfe auch. Vielleicht eine Brachvogelwache?«
15
Es dämmerte bereits, als ich nach einem langen Gassi mein Hoftor aufschloss. Ich war nicht nur an der frischen Luft gewesen, sondern auch in diversen Buchhandlungen. Über eine Stunde hatte ich geblättert und geschmökert, ehe ich mich für zwei vogelkundliche Bücher entschied.
Herrn Holzingers Ausführungen hatten mich tief beeindruckt. Und er hatte absolut Recht. Jeder musste in seinem eigenen Leben beginnen. Man konnte nicht behaupten, die Natur zu lieben, wenn man sie nicht achtete. Bislang waren mir Vögel ziemlich egal gewesen, allerdings beglückte mich ihr Singen morgens und abends oft – diese wunderbare, manchmal zum Weinen schöne Stimmung, die eine Amsel in einem Hinterhof herbeizaubern kann!
An den Kommissar dachte ich nur noch fast ständig. Ich war wieder fast gut drauf. Vielleicht sollte ich mich mit Flipper bei der Rettungshundestaffel bewerben. Irgendetwas Soziales machen. Das war bestimmt ein schönes Gefühl, eingebunden zu sein in eine ehrenamtliche Gemeinschaft. Voller guter Vorsätze schloss ich das Tor zum Hinterhof, da stieß Flipper einen Freudenschrei aus und spurtete los.
»Simon! Was machst du denn hier?«
Der kleine Kerl mit dem Riesenrucksack auf dem Rücken
winkte mir begeistert zu. »Hallo!« Dann widmete er sich Flipper, und der ließ sich das gerne gefallen. Ausgelassen tobten die beiden durch den Hof und gaben mir lautstark Gelegenheit zu begreifen. Simon war da! Bei mir! Der kleine Simon aus Wampertskirchen! Nein, ich träumte nicht.
»Wo sind deine Eltern?«, stieß ich unhöflich hervor.
Keine Antwort ist auch eine Antwort.
»Woher weißt du, wo ich wohne?«, versuchte ich es freundlicher. Da fiel mir ein, dass der Kommissar mich einmal gefragt hatte, ob Simon bei mir übernachtet hätte … Aber diesmal war er wirklich da, nicht nur in seiner Fantasie.
»Schau!«, sagte Simon und hielt mir eine Handvoll schlapper Wiesenblumen entgegen. »Für dich!«
»O! Das ist aber lieb!«
»Sind leider ein bisschen kaputtgegangen.«
»Ich stelle sie gleich ins Wasser«, sagte ich, obwohl sie im Müll besser aufgehoben gewesen wären. Blumen hatte ich lang nicht mehr bekommen. Selbstgepflückte obendrein! Ich sollte netter zu Simon sein. Er war ein Kind. Erst mal ankommen lassen. Nicht gleich einschüchtern.
»Lass uns reingehen«, lächelte ich – eine Wölfin in Großmutters Bett.
»Letzte Woche haben wir mit der Schule einen Ausflug gemacht. Ins Deutsche Museum, weißt du.«
»Das ist gleich da vorne«, wies ich die Richtung.
Simon nickte. »Genau. Und in Erdkunde haben wir den Stadtplan von München durchgenommen und von Hamburg und Berlin und mussten aufschreiben, wie wir von da nach da kommen. So habe ich deine Straße gefunden. Das war ganz einfach. Fußgänger dürfen nämlich auch bei einer
Einbahnstraße in die andere Richtung gehen. Fußgänger sind keine Autos.«
»Woher kennst du meine Adresse?«
Flipper kratzte sich am Hals. Seine Hundemarke und die Kapsel mit unserer Adresse klackerten aneinander. Alles klar.
»Hast du Durst oder Hunger?«, machte ich weiter gut Wetter.
Simon deutete auf seinen Rucksack. »Hab alles dabei. Kekse, Taschenmesser, Wasser, Stadtplan, Taschenlampe, Regenjacke.«
Ich sperrte die Haustür auf. Simon und Flipper drängten sich an mir vorbei und preschten gleichzeitig durch den schmalen Türspalt; es
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