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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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verraten sie ihren Nachwuchs. Die fliegen lange vorher weg, und sie fliegen weit weg von ihrem Nest und kommen spät wieder zurück. Manchmal ist es dann eben zu spät.

    Bei fünfundzwanzig Grad kann ein Vogel eine halbe Stunde fortbleiben. Will sagen: Während starker Sonneneinstrahlung ist es am wichtigsten, das Gelege zu bedecken, denn bei Übertemperatur gehen die Eier kaputt. Auch wenn es sehr kalt ist und regnerisch, ist das eine Katastrophe. Das bedeutet, der Vogel ist verschiedensten Gefahren ausgesetzt. Einerseits durch Menschen, Erholungsrummel und das Wetter, andererseits durch alles sonstige, was ja auch noch Hunger hat: Elstern, Hunde, Greifvögel, Katzen, Füchse und so weiter.«
    »Aber das ist ja furchtbar!«
    »Nein, gnädige Frau. Wenn wir Kompromisse finden, damit alle zufrieden sind, wenn wir Ruhezonen einrichten und sie auch respektieren, wenn sich die verschiedenen Interessensgruppen in ein Boot setzen, dann sind wir in einer guten Fahrrinne, um mal im Bild zu bleiben… Und ganz prima wäre es, wenn hier auch die Wasservogeljagd mit im Boot sitzen würde.«
     
    Ich tauschte einen Blick mit Flipper. Der Spaziergang war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Mich beschämte er bei jedem neuen Kapitel, das Herr Holzinger aufschlug. Nun war ich schon so oft hier gewesen und hatte keine Ahnung, dass der Starnberger See eine überragende Bedeutung für den Vogelschutz hatte. In den Wintermonaten tummelten sich dort bis zu 25 000 Wasservögel, auch einige sehr seltene und im Bestand bedrohte, wie See- und Lappentaucher, Pracht- und Sterntaucher, Eis-, Schwarzhals-und Rothalstaucher. Die Bucht in St. Heinrich gilt darüber hinaus als größte Brutkolonie für die Flussseeschwalbe, und
es wurden sogar schon Flamingos gesichtet. »Und genau deshalb«, erklärte Herr Holzinger, »tragen wir Menschen in diesem Gebiet eine besondere Verantwortung.«
    »Aber doch nur, wenn die Vögel brüten?«, fragte eine ältere Dame.
    »Nein, auch im Winter. So ein Schneehuhn, das gräbt sich im Winter tief in den Schnee ein. Jeder Langläufer oder Spaziergänger schreckt es auf, und es flüchtet, wozu es kilometerweit fliegt. Dann gräbt es sich wieder ein. Dadurch wird so viel Energie verbraucht, dass manche der Tiere den Winter nicht überstehen. Und auch die Zugvögel brauchen Ruhe. Viele Wasservögel legen Tausende von Kilometern zurück. Das kostet Kraft. Sämtliche Organe der Tiere werden bei den Flügen in Mitleidenschaft gezogen. Magen, Herz und Brustmuskel bilden sich zurück, und die Fettreserven werden völlig aufgebraucht. So ein kleines Herz schlägt bis zu achthundertmal in der Minute. Und jetzt bitte ich die Dame mit dem Hund zu warten, wir sind in etwa fünfzehn Minuten wieder bei Ihnen.«
    Ich machte Flipper das Handzeichen für Bleib. Ohne zu murren legte er sich ins Platz. Wahrscheinlich war er zutiefst erleichtert und nun schwer beschäftigt damit, Strategien zu entwickeln, wie er all diese unangenehmen Dinge von meiner Festplatte löschen sollte. Während ich der Gruppe Richtung Schilf nachblickte, überlegte ich, ob ich Herrn Holzinger und vor allem den Waldschrat fragen sollte, ob er Klaus Hase kannte, vielleicht war die Polizei noch nicht bei ihnen gewesen. Nur so konnte ich beim Kommissar punkten und darauf kam es mir jetzt an. Mich reinzuwaschen.

    Nach knapp drei Stunden endete die vogelkundliche Wanderung. »Haben Sie kurz Zeit?«, fragte ich Herrn Holzinger, nachdem ich lange gewartet hatte, weil so viele Teilnehmer noch die eine oder andere Frage stellten; oft waren es dieselben Fragen.
    »Nein, ich muss zur Brachvogel-Wache.«
    »Wie?«
    »Wir sind sehr glücklich, dass wir einen in der Gegend haben.«
    »Und wo?«
    »Das geben wir nicht bekannt.«
    »Natürlich. Entschuldigung«, murmelte ich.
    »Er hat vier Junge im Nest. Es wäre fantastisch, wenn wir sie durchbringen würden. Deshalb wachen wir schon seit April.«
    »Und wie lange noch?«
    »Bis Juli, schätze ich. Übrigens: Ihr Hund, alle Achtung.«
    »Ich habe heute viel gelernt von Ihnen, danke.«
    »Das freut mich. Dann bleiben Sie in Zukunft auf den Wegen und leinen den Hund in Schutzgebieten an, was Sie ohnehin schon immer gemacht haben?« Er zwinkerte mir zu.
    Ich nickte. Ich nahm es mir vor. Ich hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Wie oft war Flipper in den letzten zwei Wochen abgehauen. Ich durfte gar nicht daran denken. Auch das Training hatte ich sträflich vernachlässigt. Ich wollte nicht, dass unschuldige kleine

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