Alle Vögel fliegen hoch
naturverbunden, im Grunde genommen hatte ich keine Ahnung, wie ich schon in der ersten halben Stunde begriff. Die schöne grüne Natur war gar nicht so schön, wie sie an der Oberfläche aussehen mochte – wie hatte der Waldschrat Ludwig Metzger gesagt: »zugeschissen, alles zugeschissen«. Vor allem, wenn man als Vogel unterwegs war, konnte einem die Freude am Tirilieren gewaltig verdorben werden, denn das Leben vieler Vögel, ja ganzer Familien, war ein gnadenloser Überlebenskampf. Dies lag nicht an den natürlichen Feinden, sondern vor allem an der Krone der Schöpfung : dem Menschen. »Der Mensch weiß oft nicht, was er tut«, erklärte uns Herr Holzinger. »Und noch öfter will er das auch gar nicht wissen. Seinerzeit an der Isar bei den Nackerten haben wir die letzten Kiesinseln bewacht, denn genau diese Brutplätze brauchen bestimmte Vögel. Es war uns klar, dass der Ansturm der Leute dazu führen würde, dass diese Vögel in wenigen Jahren ausgestorben wären. Die Leute waren sehr verständnisvoll, das sind sie im Prinzip bis heute, aber es sind ja immer mehr geworden, immer mehr Erholungssuchende. Und so ist es weitergegangen, und mittlerweile ist es überall wie damals auf den Kiesinseln an der Isar. Immer mehr Menschen überall. Immer mehr Freizeit für alle. Und alle wollen sich erholen. Gleichzeitig. Und am besten da, wo
sonst niemand ist. Also abseits der Badestellen, abseits der Wanderrouten, abseits der Wege. Und alle wollen was Tolles machen. Am besten, wenn niemand anderes das macht. Eine Mitternachtsparty ist doch super! Will sagen«, sagte Herr Holzinger, »die Natur kommt überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Aber die Vögel verstehen das nicht, wenn Sie zu ihnen sagen: Lieber Vogel, lass dich nicht stören, ich mach hier nur ein Picknick an diesem herrlichen Fleckchen Erde, und dann geh ich wieder; ich fahre hier nur mal mit meinem Radl durch, weil es so unberührt ist, ich lass hier nur mal meinen Hund laufen, weil der so eine Freude hat. Das versteht der Vogel nicht. Der hat Angst. Und haut ab. Und wenn es ganz blöd läuft, kostet ihn oder seinen Nachwuchs diese Flucht das Leben.«
Niemand schaute mich an, doch ich fühlte mich zu Recht angesprochen. Früher war ich auch noch als Mountainbikerin unterwegs gewesen. Und klar brachte das querfeldein am meisten Spaß. Ich hatte mir bestimmt keine Gedanken darüber gemacht, ob ich dabei vielleicht zufällig ein paar hundert artengeschützte Pflänzchen abrasierte, die eine wichtige Rolle für das ökologische Gleichgewicht spielten. Und jetzt Flipper. Genauso eine war ich. Mein Hund ist ganz lieb. Der wildert nicht. Nein, Rehe schleifte er keine an, aber woher wusste ich, wen er alles aufscheuchte bei seiner lustigen Jagd durch das Unterholz?
»Wir wollen doch nichts zerstören!«, rief eine Frau in Trachtenjanker aufgebracht.
»Ja, das weiß ich, gnädige Frau. Aber es passiert eben. Aus Unwissenheit. Darf ich an dieser Stelle mal fragen, wie viele von Ihnen hier im Landkreis wohnen?«
Keine einzige Hand ging nach oben.
»Wenn jemand aus München-Giesing oder aus Augsburg oder Wanne-Eickel an den Starnberger See oder in ein anderes Naturschutzgebiet fährt, wird ihn der Schutzgedanke primär nicht interessieren, es ist nicht seine Heimat. Jetzt fahren aber ganz viele Leute in Gebiete, die eben nicht ihre Heimat sind. Ausflugsziele. Das schöne Umland. Erholungsoasen. Dabei genügt ein einziger Spaziergänger, der sich einem Nest nähert, in dem Eier liegen. Manche Arten brüten nur einmal im Jahr. Der Vogel flieht. Er kann nicht erkennen, dass das ein harmloser Spaziergänger ist. Wenn der Spaziergänger vielleicht auch noch beschließt, hier zu rasten, und es warm ist so wie heute, um die 25 Grad, dann ist das Gelege schnell kaputt, denn die Eier zerglühen. Und wenn es ganz schlimm ist, war das ein Vogel, der nur einmal im Jahr brütet und von dem es ohnehin nur noch ein Dutzend gibt. Und Sie merken gar nicht, dass Sie das waren. Weil Sie das doch gar nicht wollten. Weil Sie sich doch ganz im Gegenteil gefreut haben, dass die Natur so schön ist.«
Nicht nur ich schluckte betroffen.
»Aber es fliegt doch nicht jeder Vogel weg, wenn jemand kommt!«, rief ein kleiner dicker Mann mit Schnauzer aufgebracht, dem der Mord an einer unschuldigen Handvoll Eier offensichtlich zu schaffen machte.
»Die Meise bleibt sitzen. Der Buchfink auch. Aber die Vögel, die am Boden brüten, die wissen, dass sie nicht kurz vorher auffliegen dürfen, sonst
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