Alle Vögel fliegen hoch
Nicht mal Yoga half mir – und das half sonst immer. Ich musste ständig daran denken … die größte Blamage meines Lebens. Den blauen Himmel empfand ich als Zumutung, die Sonne obendrein. Mir wäre es am liebsten gewesen, es würde regnen, regnen, regnen.
Grantig holte ich mir eine Breze und eine Kürbiskernsemmel vom Bäcker. Ich hatte überhaupt keinen Hunger, aber es war ein freier Samstag, und das Bäckerfrühstück gehörte irgendwie dazu. Die Abendzeitung war ausverkauft. Kurz überlegte ich, ob ich mir eine aus dem Zeitungskasten am Mariahilfplatz holen sollte, dann griff ich nach der Süddeutschen. Die ist mir meistens zu dick, aber ich hatte ja ohnehin nichts vor. Während der Kaffee durchlief, überflog ich den Münchenteil und erfuhr, dass der Anteil der allein lebenden Menschen in München bundesweit am höchsten sei. »Und genauso soll das bleiben«, sagte ich in Flippers Richtung. Ich trank einen Schluck Kaffee, butterte die Breze, las das Streiflicht und blätterte um. Der Waldschrat! Der Waldschrat in der Zeitung! Meine Hände zitterten. Es gibt keinen Zufall.
Die Reportage auf Seite drei handelte von der Arbeit eines Partners des Naturschutzbundes, der sich für den Vogelschutz
starkmachte, und ließ nicht nur Mitglieder zu Wort kommen, sondern auch den siebenundsiebzigjährigen Ludwig Metzger, der seit über sechzig Jahren bei Wind und Wetter für die Erhaltung der Natur unterwegs war. Schon als Pimpf hatte er sich für die Vogelwelt begeistert, und so war das geblieben bis ins hohe Alter, wobei er trotz unzähliger Aktivitäten niemals einem Verein beigetreten war. »Ich bin selber wie ein Vogel. Ich lass mich nicht gern einsperren.« In losen Abständen leitete der emeritierte Physikprofessor vogelkundliche Wanderungen in verschiedenen Gebieten der Region, für die man sich unter einer Internetadresse anmelden konnte.
Ich startete meinen Laptop. Es gibt keinen Zufall. In einer Stunde würde ein solcher Naturspaziergang in Feldafing am Starnberger See beginnen. Telefonische Terminabsprache zwingend erforderlich. Ich sprang unter die Dusche und Flipper begeistert auf die Pfoten.
Am Treffpunkt, einem Parkplatz in Seenähe, ein Grüppchen Leute in Gassikleidung – aber vom Waldschrat keine Spur. Ein mir unbekannter Mann in den Fünfzigern, Jeans und petrolfarbenes T-Shirt, hakte die Teilnehmer auf einer Liste ab, auf der mein Name fehlte.
»Tut mir leid, aber Sie stehen da nicht drauf.«
»Es ist doch bestimmt jemand nicht gekommen; immer kommt jemand nicht, da kenne ich mich aus.«
»Und einen Hund können Sie auch nicht mitnehmen.«
»Wenn Sie mich ausschließen, geh ich ins Wasser!«
»Ja von mir aus«, schmunzelte der Mann. »Will sagen: Ich halt Sie nicht auf.«
»Aber dann müsste der Hund ins Tierheim.«
»Das ist ein Argument!«
Den Rest erledigte Flipper, und nach einer Bürgschaft, einer Petition und einem Plädoyer durch die anderen Teilnehmer bekamen wir eine Sondergenehmigung. Allerdings nicht für die gesamte vogelkundliche Wanderung, auf Ansage sollte Flipper draußen bleiben.
Herr Holzinger, »im wirklichen Leben Versicherungsanwalt«, führte unsere kleine Gruppe von achtzehn Teilnehmern mit interessanten Informationen, die er kurzweilig in Anekdoten packte, am Seeufer entlang. Wir erfuhren, dass er schon in den siebziger Jahren, seinerzeit noch Student, als Vogelschützer unterwegs gewesen war.
»An der Isar in der Pupplinger Au gab es damals eines der ersten Nacktbadegebiete«, klärte Herr Holzinger uns auf. »Will sagen: jede Menge Spanner.« Aber ein Spanner war der Herr Holzinger mit seinen Kumpels nicht, auch wenn sie Ferngläser dabeihatten. Sie interessierten sich nicht für die Nackerten, sondern für die Vögel. »Ganz im Gegenteil«, vertraute Herr Holzinger der Gruppe an, »für mich war das richtig schlimm; mein Vater war Religionslehrer.«
»Wo ist eigentlich der Herr, der die Führung ursprünglich hätte leiten sollen?«, tuschelte eine Frau einer anderen zu.
»Der aus der Süddeutschen?«
»Vielleicht hat er Angst gekriegt.«
»Vor uns?«
Sie kicherten.
Ein Mann klärte die beiden auf: »Der Herr Metzger hat
dringend zur Greifvogelauffangstation müssen. Deswegen vertritt ihn der Herr Holzinger. Wären Sie nicht zu spät gekommen, hätten Sie das mitgekriegt.«
Ich hätte mich in jedem Fragebogen als naturverbunden bezeichnet, und ich war ja auch ständig draußen unterwegs, doch eigentlich war ich überhaupt nicht
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