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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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mich gut behandeln und nicht rausschmeißenoder vergiften. Der andere ist wohl arbeitslos. Ein Harzer Knaller, hat er letztens gesagt. Hängt irgendwie mit den neuen
     Regeln zusammen. Mittelgebirge plus Nummer. Ich hab’s mir nicht gemerkt.
    Wie heißt du eigentlich, fragt Klara, denn nun kommt es ihr auf einmal komisch vor, ihn immer Alzheimer zu nennen. Der spricht
     ja gestochen scharf, wenn er will.
    Aaron, sagt der Alzheimer.
    Du bist ein Jude, sagt Klara und kneift die Augen zusammen.
    Ja, aber das sollte uns in unserem Alter nicht mehr stören, sagt Aaron und lächelt.
    Ganz bestimmt nicht, antwortet Klara, aber die Russen haben solche wie dich nicht leiden können. Da waren die biestig. Im
     Zweifelsfall haben die eher einen kleinen Nazi in eine Funktion geschickt als einen Juden.
    Aaron staunt Klara an. Du kannst ja richtig gut am Stück reden. Vorhin beim Tanztee habe ich gedacht, du bist noch schlimmer
     dran als ich.
    Früher geht gut, sagt Klara. Früher geht sogar sehr gut. Aber wenn ich morgens aufwache, weiß ich oft nicht, was ein Stuhl
     oder ein Lichtschalter ist. Ich kann Geschichten erzählen, die liegen fünfzig Jahre zurück, und vergesse manchmal, wie man
     aufs Klo geht.
    Klara wundert sich. Dass sie das alles erzählt und dann noch einem Mann. Einem Juden. Der ihr ans Knie fasst und ganz nah
     gerückt ist. Das hat sicher auch etwas mit dem Alter zu tun. Man wird schamlos. Und mit wem soll man sonst reden. Hier ist
     doch niemand freiwillig. Bist du freiwillig hier?
    Aaron lächelt und sagt ja. Ich finde es beruhigend zu wissen, dass mir jemand den Hosenstall zumacht, wenn ich es vergessen
     habe. Da draußen hatte ich immer Angst. Ausgelacht zu werden oder misshandelt. Ja, ich weiß, hierwird man manchmal auch misshandelt. Aber was sollen sie tun, wenn sie den ganzen Tag solche wie uns zu versorgen haben?
    Klara macht die Augen zu und schläft ein. Sie spürt noch, wie Aaron ihr einen Hocker unter die Füße schiebt und sie mit einer
     Decke zudeckt. Hoffentlich vergisst er mich nicht in der Zwischenzeit, denkt Klara.
    Hoffentlich weiß sie nach dem Aufwachen noch, wer ich bin, denkt Aaron.

 
    Heute gehen wir raus, sagt Juli und packt Svenja in warme Sachen.
    Die Hebamme lächelt. Eine Stunde, hörst du, nicht länger. Es ist immer noch ziemlich kalt da draußen.
    Aber sie ist ganz warm eingepackt.
    Es geht nicht um Svenja, sondern um dich. Du bist noch schwach und darfst dich nicht erkälten. Wer soll sich um das Kind kümmern,
     wenn du krank bist?
    Ich besorg mir eine Mutter, sagt Juli. Die gibt’s doch jetzt zu kaufen.
    Endlich ist sie fertig. Zu Svenjas Füßen kommt noch eine Wärmflasche, und Juli nimmt die dicken Fäustlinge vom Flurschrank.
     Der Kinderwagen ist ein wenig altmodisch und schwer. Die Flecken hat sie alle gut rausbekommen, aber trotzdem sieht der Wagen
     etwas schäbig aus. Sind wahrscheinlich schon eine Menge Kinder drin gefahren worden.
    Wir suchen uns eine Großmutter, Svenja, eine, die stundenlang auf Parkbänken sitzt und nicht mehr weiß, was eine Mütze ist.
    Die Hebamme hilft den Kinderwagen runtertragen. Die Treppen sind steil und schmutzig. Unten im Hausflur ist Svenja schon eingeschlafen.
     Juli drückt die Hebamme und schaukelt mit dem Wagen davon.
    Im Park ist es still und weiß. Ein paar Kinder quälen sich auf Plastikschlitten flache Hügel hinauf und hinunter. Beides dauert
     fast gleich lang. Keine richtigen Bergehier, murmelt Juli, nur Trümmer unter Schnee, da kann man nicht gut rodeln.
    Ein großer Hund kommt, um den Kinderwagen zu beschnüffeln. Juli pustet wütend eine weiße Wolke in die Luft, als er ein Bein
     hebt, und schiebt die Karre ein Stück zur Seite. Pinkeln darfst du nicht, nur gucken. Von Svenja ist so gut wie nichts zu
     sehen. Ihre erste Ausfahrt, und sie verschläft alles. Den hellblauen Winterhimmel, die Kinder, den Hund, nichts davon bekommt
     sie mit.
    So kann man nicht lernen, sagt Juli, es sei denn, du lernst im Schlaf. Sie stupst Svenja mit dem Fäustlingsdaumen an die Nase.
     Keine Reaktion. Du verschläfst dein halbes Leben, habe ich gelesen. So wie eine Alte. Die Alten verschlafen auch ’ne Menge
     Zeit. Aber bei denen macht es Sinn. Wenn die wach sind, vergessen sie nur. Du musst lernen.
    Juli stupst noch einmal und lässt Svenja dann in Ruhe. Soll sie schlafen. Außer dem blauen Himmel ist nichts zu sehen. Die
     Kinder zu weit weg und keine alten Damen auf den Bänken. Juli fängt an zu frieren.
    Die Wörterfrau

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