Alle Zeit - Roman
ist nicht da, Svenja. Dann laufen wir eben nur einmal um den Ententeich und wieder nach Hause. Ich fühle mich
einsam mit dir hier im Park.
Der Weg zurück ist zwei Mal so lang. Im Hausflur überlegt Juli, wie sie den Kinderwagen die Treppen raufbekommt. Das hat sie
vorher nicht bedacht. Und die Hebamme auch nicht, obwohl die sonst an alles denkt.
Eins nach dem anderen, sagt Juli. Erst das Kind und dann der Wagen. Sie nimmt Svenja auf den Arm, und die fängt an zu schreien.
Brüll nicht, sagt Juli, ich muss mich konzentrieren. Sie schafft die Stufen, ohne abzusetzen, schafft es, mit Svenja im Arm
die Wohnungstür aufzuschließen, schafft es, mit Svenja im Arm die Stiefel von den Füßen zu schleudern und das schreiende Kind
imZimmer auf den Futon zu legen. Dann schaut sie ratlos in die Runde. Ein schreiendes Kind kann sie jetzt nicht allein lassen,
um den Kinderwagen zu holen. Aber im Kinderwagen ist ihre Tasche und in der Tasche ihre Geldbörse, und in der Geldbörse stecken
vierzig Euro.
Juli hält die Luft an und rennt die Treppe runter. Sogar unten im Hauflur hört sie Svenja noch schreien. Sie schnappt sich
die Tasche und die Wärmflasche und das dicke Kissen und rennt all die Stufen wieder rauf. Als sie in die Wohnung kommt, ist
Svenja plötzlich still. Nein, ruft Juli und läuft zum Futon. Svenja guckt aus blauen Augen. Und lächelt. Juli fühlt ihr Herz.
Wie es schlägt. Laut und ein wenig schmerzhaft.
Ich muss ruhiger werden, ich darf mir keine Sorgen machen, ich muss mich konzentrieren. Sonst geht die Milch weg. Ich bin
noch nicht alt genug, sagt Juli und setzt sich zu Svenja auf den Futon. Dann kommt die Angst, und danach kommen die Tränen.
Ich bin zu jung, und ich könnte wirklich eine Mutter brauchen. Oder eine Großmutter. Oder eine Urgroßmutter. Egal. Irgendeine,
aus deren Fleisch und Blut ich gemacht bin.
Svenja macht die Augen auf und zu. Juli schläft ein.
Klara wacht auf und sieht Aaron neben sich sitzen. Dich kenne ich, sagt sie und grinst. Ihre Zähne sind ein wenig verrutscht.
Sie schiebt vorsichtig mit der Zunge, bis der Kladderadatsch wieder sitzt. Kladderadatsch, denkt sie. Ist doch nun wirklich
ein komisches Wort.
Aaron ist nicht bei ihr. Er guckt in die Luft und murmelt irgendwas vor sich hin. Klara steht vorsichtig auf, um ihn nicht
zu erschrecken, legt die Decke zusammen, stellt den Wodka weg und geht aus dem Zimmer. Vielleicht beim Abendessen. Vorhin
war er ja auch gut beisammen.
Auf dem Gang trifft Klara die nette Pflegerin. Die mit dem roten Zopf. Gut so, sie hat ihre Zimmernummer vergessen und auch,
warum sie hier in diesem fremden Haus herumläuft. Die nette Pflegerin bringt Klara dahin, wo sie hingehört. Sie schaltet das
Radio ein und sagt nichts zu dem Alkoholgeruch, der Klaras altem Mund entweicht.
Morgen gehe ich in den Park, sagt Klara. Da laufen Frauen mit grünen Haaren rum. Die Pflegerin lächelt. Ein weiblicher Pumuckl?
Klara guckt betrübt. Pumuckl sagt ihr auch nichts. Gar nichts. Aber die Frau mit den grünen Haaren hat sie nicht vergessen.
Die hat so was. Vertrautes. Klara ist froh über das Wort. Vertrautes. Ein schwieriges Wort, und sie hat es im Kopf.
Als die Pflegerin fort ist, nimmt Klara ihre hellbraune Holzkiste, die auf dem Tisch steht. Immer in ihrer Nähe ist die Holzkiste,
solange Klara denken kann. Sie klapptden Deckel hoch und holt die kleine Papiertüte raus. Aus der fischt sie den Goldzahn und hält ihn hoch und gegen das Fensterlicht.
Ein bisschen glitzert er noch. War mal in ihrem Mund. Ihr erster und einziger Goldzahn, den Henriette immer haben wollte.
Henriette, da ist es. Mit dem Goldzahn ist der Name wieder da. Henriette, ihre Tochter, die ihr nie verziehen hat.
Wenn das Aaron sehen würde, sagt Klara und kichert. So ein Goldzahn würde ihn in Rage bringen. Warum, ist Klara nicht richtig
klar, aber sie ist sicher, dass Aaron beim Anblick des Goldzahns böse würde.
Henriette. Wenn die ihr nicht böse gewesen wäre, hätte sie den Zahn bekommen. Wie sie es immer wollte. Oder war das Elisa?
Jetzt gerät die Welt ins Rutschen. Henriette, Elisa, hat sie die wirklich gekannt? Doch. Sie ist sich sicher. Zumindest bei
Henriette. Aber Elisa. Wie kommt der Name in ihren Kopf, verdammt und zugenäht. Verflixt. So ist es richtig. Zu zugenäht gehört
verflixt.
Klara runzelt eine Faust um den Goldzahn und denkt nach. Gleich fällt ihr wieder eine Geschichte ein. Sie spürt
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