Alle Zeit - Roman
es.
***
Inzwischen ist sie wer in der Stadt. Der Besatzer, der Bestimmer, hat bestimmt, dass aus ihr etwas wird. Zuerst einmal eine
Agitatorin. Der Mann mit dem immer glänzenden Koppel und den immer geputzten Stiefeln, für den sie nun schon oft die Beine
breit gemacht hat, kommt eines Tages mit einem alten Fahrrad an. Er weist seinen Soldaten, den flachgesichtigen, zweidimensionalen
Soldaten, an, das Fahrrad zu reparieren. Für Klara. Sie darf zusehen, wie aus dem untüchtigen Drahtesel ein richtiges Gefährt
wird. Ein wenig zu groß für sie zwar, aber es geht noch. Gerade so geht es. Beim Fahren mussKlara auf dem Sattel hin und her rutschen, um mit den Zehenspitzen auf die Pedale zu kommen. Der Sattel ließ sich nicht niedriger
stellen. Trotz des Geschicks, mit dem der Flachgesichtige geschraubt und gebaut hatte. Zu viel Rost und dazu ein wenig eingedellt
die Stange, auf der ein alter, weicher Ledersattel steckt. Also rutscht Klara auf ihrer Probefahrt draußen am Fliegerhorst
auf dem weichen Leder hin und her, um in die Pedale zu treten.
Am Anfang ist das ein schönes, fast unbekanntes, kribbliges Gefühl zwischen den Beinen. Aber schon nach der dritten Runde
beginnt es weh zu tun. Und am Abend nach der Probefahrt kann Klara nicht mal leicht mit dem Finger zwischen die Beine, da
brennt es schon wie Feuer. Aber sie hat ein Fahrrad, und weil sie ein Fahrrad hat und der Offizier beginnt, sie ein bisschen
zu mögen, wird sie nun Agitatorin. Sie fährt übers Land und versucht, den Menschen zu erklären, was sie tun müssen. Zum Beispiel
müssen sie die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher fordern. Und sie müssen fordern, dass Arbeiterkinder und Bauernmädels
an die Hochschulen kommen.
Klara nimmt ihre Aufgabe ernst. Sie ist jeden Tag unterwegs, und dafür gibt es Essen und ein Paar Schuhe für Henriette. Die
wächst, dass man dabei zusehen kann. Und ist dünn wie eine Bohnenstange. Und viel zu viel allein, wenn Klara unterwegs ist.
Aber noch reicht es nicht vorn und hinten auch nicht, und deshalb kann niemand ins Haus kommen, um am Tage aufzupassen. Obwohl
es gut für Henriette wäre, die schon, routiniert wie eine Alte, mit den Dingen in der Wohnung redet. Hat eine Freundschaft
mit dem ächzenden Radio aufgebaut und eine mit der Kaffeekanne, die immer, wenn Klara von ihrer Arbeit nach Hause kommt, auf
dem Tisch steht. Klara vergeht oft vor Sorge, wenn Henriette so lange allein zu Hause ist. Manchmal schaut die Nachbarin vorbei,
und dafür bekommt die dannein paar Kartoffeln oder ein Stück Uniformstoff, aus dem sie sich was nähen kann.
Hinter Klaras Rücken reden die Leute, was das Zeug hält. Zerreißen sich die Mäuler über das Russenflittchen. Kein Erbarmen
haben sie, denn schließlich fehlt es auch bei ihnen an allen Ecken und Enden, nur ist keiner da, der Konserven oder Kartoffeln
bringt. Keiner, der einen flachgesichtigen Soldaten vorbeischickt, damit der die kaputten Möbel repariert und das Wasser zum
Laufen bringt. Sogar eine neue Brille für den Lokus hat er Klara gebaut. Wahrscheinlich zahlt sie den auch in Naturalien.
Diesen grusligen flachnasigen Mann, der immer nur komisch grinst und dessen Haut nie blass wird. Wer weiß, was solche Männer
zwischen den Beinen tragen. Und wer weiß, ob es Klara nicht vielleicht gefällt. Und ob sie nicht irgendwann, wie eine Zigeunerbraut,
ihr kleines Mädchen mit verkauft. Wenn der Russe es will.
Jetzt fährt sie also auf einem alten Fahrrad, wer hat hier sonst noch ein funktionierendes Fahrrad, fährt damit auf die Dörfer
und redet zu den Leuten, was sie tun und was sie lassen sollen. Redet, als wär sie schon immer eine Kommunistenbraut gewesen.
Dabei ist ihr Mann doch auch irgendwo in der Fremde in einem Bergwerk gefangen, um seine Schuld abzutragen. Seine Schuld am
Krieg und dem ganzen Unglück, das sie jetzt hier ausbaden mit dem Russen, oder besser, unter seiner Fuchtel.
So reden die Leute hinter Klaras Rücken. Und Klara steigt jeden Morgen aufs Fahrrad, eine Hornhaut hat sie schon zwischen
den Beinen, so viele Kilometer ist sie gestrampelt. Zum Glück immer über flaches Land, denn hier gibt es weit und breit keine
Berge und keine Hügel. Nur flaches Land und schweren Boden.
Freundlich empfangen wird sie selten, wenn sie über die Dörfer zieht. Die meisten schließen ihre Fenster undTüren, wenn das Russenflittchen kommt. Wollen nichts hören von Kämpfen und Gewerkschaftswahlen. Und
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