Alle Zeit - Roman
eines Mädchens oder Jungen oft auch der Großvater oder der Onkel des Kindes.
Mittelalterliche Zustände haben auf diesem Dorf geherrscht, und die Debilen starben meistens früh.
Jetzt übertreibt sie aber, denkt Elisa. Wir reden hier vom Zwanzigsten Jahrhundert. Sie steht auf mit dem Gefühl, mindestens
zwei Liter Wasser ausgeschwitzt zu haben. Komm, wir gehen uns abkühlen.
Das Wasser im Tauchbecken wirkt etwas klebrig, aber kalt genug ist es. Henriette steigt mit allergrößter Vorsicht die eiserne
Leiter hinunter. Als das Wasser ihre Brüste berührt, stöhnt sie kurz auf und steigt die Leiter wieder hoch. Ich gehe unter
die Dusche, murmelt sie.
Elisa schafft zwanzig Sekunden im Becken, dann verlässt sie der Mut. Sie stellt sich neben Henriette unter dieDusche und lässt lauwarmes Wasser über ihren Körper laufen. Mit vierzig verändern sich die Konturen, denkt sie. Alles wird
ein wenig weicher und unscharf an den Rändern. Sogar die Knie bekommen kleine Falten. Oder Grübchen, je nach Ansicht und Leidenschaft.
Sie nimmt die nach Lavendel duftende Seife und schäumt ihre Knie ein. Henriette schaut zu und lächelt, stellt die Dusche ab
und wickelt sich in das große weiße Badetuch.
Als Elisa in den Ruheraum kommt, ist Henriette schon eingeschlafen. Immerhin, den Ruheraum hat sie gefunden, obwohl es um
zwei Ecken ging.
Das werden lange Tage, murmelt Elisa und legt sich auf den Stuhl neben Henriette. Die Geschichten vertragen wohl keine Eile.
Sie nimmt eine von den zerlesenen Zeitschriften, die auf einem Tischchen neben ihrem Stuhl liegen. Super Illu, das war zu
erwarten in so einem Hotel mit Zwiebelzöpfen an den Deckenbalken. Von der Titelseite strahlt eine vergessene Schlagerlegende
ihr neues Glück in den Ruheraum. Das Glück steht neben ihr und sieht aus wie ein Autoverkäufer. Der ganze, ganze Rest von
uns, denkt Elisa. Mit Autoverkäufern verheiratete Schlagersängerinnen und Zwiebelzöpfe. Und ich bin richtig schlecht drauf.
Henriette sieht erschöpft aus. So erschöpft, dass Elisa beschließt, keinen zweiten Saunagang mit ihr zu wagen. Lieber noch
ein Abendessen im Hotelrestaurant und dann ins Bett. Morgen würde man sich das Haus ansehen. Eigentlich hatte sie vorgehabt,
sich heimlich davon zu überzeugen, ob es überhaupt noch steht. Aber das würde jetzt nicht mehr zu schaffen sein.
Aus Henriettes Mundwinkel läuft ein dünner Speichelfaden, den Elisa vorsichtig mit dem Zipfel ihres Handtuches abwischt.
Hab ich gesabbert, schreckt Henriette auf.
Elisa lächelt. Du wirst eben alt, und schnarchen tust du auch.
Beim Abendessen wählen sie einen Tisch für zwei Personen an einem der großen Fenster. Obwohl man in der Dunkelheit draußen
nichts sehen kann. Vielleicht beim Frühstück oder wenigstens nachmittags beim Kaffeetrinken. Es gibt schweres warmes Essen,
und auf dem Tisch beschreibt ein Kärtchen die Belustigung des Abends. Eine Liveband wird zum Tanz spielen. Henriette schiebt
das Kärtchen schüchtern an den Rand des Tisches und sagt: Wenigstens mal vorbeischauen könnten wir. Elisa nickt und lächelt
und nickt und lächelt und sieht sich schon mit einem der Kegelbrüder tanzen, die am hinteren langen Tisch sitzen. Kegelbrüder
fliegen auf sie, aus ihr völlig unerfindlichen Gründen.
Hast du dich denn irgendwann mit Heinz Rühmann vertragen? Die Geschichte muss weitergehen, sonst ist man morgen noch kein
Stück weiter.
Elisa spürt Ungeduld im Leib. Sie kann ihre Beine nicht mehr stillhalten und scharrt mit den Füßen über den Boden. Aus den
Beinen, die nicht stillzuhalten sind, steigt eine leichte Übelkeit in Bauch und Magen. Elisa kennt das, hat schon als junges
Mädchen darunter gelitten. Und wenn dann irgendjemand am Tisch befahl, sie möge jetzt endlich ihre Beine stillhalten, hat
sie angefangen zu weinen und gesagt, ihr sei aber schlecht in den Beinen. Plötzlich erinnert sie sich daran, dass es meist
Henriette war, die dann unwirsch und laut wurde. Niemandem könne in den Beinen schlecht werden, hat sie immer gesagt und Elisa
böse angeschaut. Später ist Elisa dann auf den Trick mit den Schmerzen gekommen. Wenn sie sich nur stark genug mit ihren langen
Fingernägeln in die Oberschenkel kniff, wich die Übelkeit den Schmerzen. Das war für Schule und Kino wie eine Erlösung. Elisa
konnte von da an sitzen bleiben, wennihr schlecht in den Beinen wurde, und musste nicht fluchtartig Raum oder Saal verlassen. Irgendwann
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