Alle Zeit - Roman
Kajal die Konturen ihrer
Augen betont. Das gab ihrem Gesicht eine weinerliche Ausstrahlung.
Willst du noch tanzen?
Ja, wir gehen uns umziehen, und dann tanzen wir mit den Kegelbrüdern da hinten.
Elisa lächelt. Mal sehen, ob sie uns wollen.
Wir können das nicht mehr gestatten, Frau Simon. Sie werden sich verirren. Es ist ja schon im Haus schwierig für Sie. Die
Orientierung. Da draußen ist dann niemand, der Ihnen helfen kann. Wir können Ihnen doch kein Schild um den Hals hängen, wie
einem Hund, mit Adresse und Telefonnummer drauf.
Die nette Pflegerin mit dem roten Zopf lächelt ein wenig bei dem Gedanken an einen großen Zettel um den Hals der alten Frau.
Natürlich können Sie das. Ich trage diesen Zettel. Aber ich will raus. Allein. Wenn ich bei Verstand bin, und das bin ich
doch noch oft, werde ich verrückt in diesem Heim. Sie können mich hier doch nicht festnageln. Und wenn ich draußen verlorengehe,
wen interessiert’s? Ich bin doch völlig allein. Niemand würde Ihnen böse sein, wenn Sie mich verlieren. Ich will nur in den
Park an den kleinen See.
Ich werde fragen, murmelt die Rothaarige. Wir können Sie ja auch begleiten beim Spazieren.
Keine Begleitung, lieber mit Zettel um den Hals. Vielleicht nehme ich Aaron mit. Wir sind nie zeitgleich gaga. Also kann einer
immer aufpassen, dass nichts passiert. Klara schiebt die rechte Hand nach vorn und legt sie der Rothaarigen auf das Knie.
Die lächelt und legt ihre Hand auf Klaras Hand. Sie ist immer wieder verwundert darüber, wie trocken sich die Haut alter Menschen
anfühlt. Und wie weich. Und dass ab einem bestimmten Alter SommersprossenAltersflecken heißen. Und dass Alte so viel Energie aufbringen, Scherereien zu machen. Klara hier macht eine ganze Menge Ärger.
Aber sie ist lieb. Nicht wie die Alzheimer, die sich schon im bösen Stadium befinden und vor denen sie manchmal regelrecht
Angst hat. Bei Klara scheint das Böse zuerst aus dem Kopf zu verschwinden, und das Gute hält sich noch wacker. Jetzt also
eine Liebesgeschichte mit Aaron. Das können die hier im Heim überhaupt nicht leiden. Die meisten finden es unanständig, wenn
die Alten zueinander ins Bett kriechen. Bei den Alzheimern ist das ja auch manchmal in einer Art und Weise hemmungslos, dass
selbst sie Alpträume davon bekommt. Es sieht eklig aus, wenn sich faltige Haut auf faltige Haut legt und arthritische Finger
im Fleisch wühlen. Bei Klara hier kann sie sich das nicht vorstellen. Der haben sie doch schon als junger Frau die Brüste
amputiert. Die Narben sehen fürchterlich aus, kreuz und quer, als hätte jemand überhaupt nicht gewusst, wie es geht. Dagegen
sieht Aaron richtig gut aus. Der hat an vielen Körperstellen eine ganz glatte Haut und muss früher mal richtig muskulös gewesen
sein.
Aaron ist nur ein Freund, murmelt Klara, als hätte sie erraten, woran die nette rothaarige Pflegerin denkt. Außerdem ist er
Jude. Die Rothaarige erschrickt und nimmt ihre Hand von Klaras Hand.
Weiß auch nicht, warum ich das immer sage. Ist doch völlig egal, wenn man alt ist. Ob man Jude ist oder eine Frau ohne Brüste.
Niemand will einen haben. Wollen wir Schach spielen?
Ich muss arbeiten, Frau Simon. Außerdem kann ich gar nicht Schach spielen. Vielleicht sollten Sie Herrn Goldstein fragen.
Klaras Augen bleiben leer. Sie schiebt das Gebiss ein wenig nach vorn und lächelt unverbindlich.
Aaron meine ich, er heißt Goldstein.
Wirklich ein richtiger Jude, murmelt Klara. Hätte ich nicht gedacht. Dass es die in unseren Heimen gibt und dass die auch
den Verstand verlieren.
Die nette Rothaarige seufzt und steht auf und knöpft Klara die Strickweste zu und streicht ihr über den Kopf. Ich werde fragen,
ob Sie in den Park gehen können. Allein oder mit Aaron. Aber es ist kalt zurzeit. Da würde es Ihnen nicht gefallen. Vielleicht
wenn der Frühling anfängt.
Dann sind alle tot, wenn der Frühling anfängt. Schätzchen, wir schleichen hier doch nur um unser Grab. Ich zieh mich warm
an und setz mich an den Teich. Klara grinst ihr Gebissgrinsen. Das mit richtig vielen Zähnen und leeren Augen. Wo ist meine
Schachtel?
Neben Ihrem Bett. Aber gleich ist Schlafenszeit. Ich komme dann noch mal schauen. Sie schließt die Tür behutsam. So behutsam,
dass Klara nicht einmal spürt, dass sie nun allein im Zimmer ist. Aber selbst wenn die Rothaarige noch da wäre. Die dürfte
die Schachtel sehen. Nicht anfassen, aber sehen schon. Die würde
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