Alle Zeit - Roman
steckte sie sich sogar
eigens für diese Situationen eine Sicherheitsnadel in die Geldbörse. Deren Nadel stach sie dann tief ins Fleisch. Manchmal
entzündeten sich die kleinen Einstiche, aber nie so schlimm, dass Elisa auf diese Art der Erlösung verzichtete.
Jetzt schiebt sie ihre rechte Hand unter die Tischdecke und nimmt ein Stück festes Oberschenkelfleisch zwischen zwei Finger.
Das wird wieder blaue Flecke geben.
Henriette merkt nichts. Sie ist verstrickt in ihre Vergangenheit.
Einmal, an einem Sonntag, bist du in die Kirche von ihm gegangen. Du hast deine weißen Kniestrümpfe angezogen und einen dunkelblauen
Faltenrock und hast dich in der Kirche weit vorn in eine Bank gesetzt. Ich war beim Wäscheaufhängen auf dem Hof, und irgendeines
von diesen gehässigen Dorfweibern hat es mir gesteckt. Ihre Tochter sitzt in der Kirche, hat sie gekichert. Ich bin in Kittelschürze
und ausgelatschten Schuhen wie eine Furie in die Kirche, habe dich aus der Bank gezerrt und rausgeschleift. Dem Pastor habe
ich angedroht, ihn anzuzeigen.
Du meine Güte, daran kann ich mich nicht erinnern.
Es war dir auch peinlich. Du hast auf dem ganzen Weg nach Hause geweint und wolltest am nächsten Tag nicht in die Schule.
Am Abend kam der Pastor zu mir und wollte reden. Ich habe ihn nicht reingelassen.
Aber was hat Klara damit zu tun?
Sie hat mich so erzogen, verdammt.
Wenn Henriette fluchte, schien die Welt immer ein Stück zu verrutschen, aus den Fugen zu geraten. Elisa nahm ihre Hand vom
Oberschenkel und legte sie auf Henriettes Finger. Und dein Mann, mein Vater, der war also auch so verbohrt?
Mehr noch, der hat es dann zur Not auch mit Fäusten ausgetragen. Du wirst es nicht glauben, aber er hat den Pastor verprügelt.
Nein, das glaube ich wirklich nicht. Einen Mann Gottes zu verprügeln muss doch selbst im Sozialismus bei den Leuten Abscheu
erregt haben.
Nicht bei deinem Vater. Der Pastor hat in einer seiner nächsten Sonntagspredigten über Mütter und Väter geredet, die ihren
Kindern verwehren, zu Gott zu finden. Oder so. Ich war nicht dabei und dein Vater auch nicht. Ist uns nur zugetragen worden,
so um sieben Ecken, wie das halt auf Dörfern war. Oder immer noch ist. Alle wussten ja von den ewigen Streitereien. Dein Vater
hat den Mann zur Rede gestellt, auf dem Kirchplatz unter einer großen Kastanie, vor dem Pfarrhaus. Ein paar Zuschauer fanden
sich schnell, und das Gespräch geriet wohl völlig außer Kontrolle. Der Pastor blieb ruhig, aber dein Vater nicht. Irgendwann
versetzte er dem Mann einen Faustschlag ins Gesicht, und der fiel sofort wie gefällt zu Boden. Und dann ist dein Vater völlig
ausgerastet. Er hat auf den Pastor eingeschlagen und eingetreten, bis andere dazwischengegangen sind. Sechs Wochen musste
der Mann im Krankenhaus bleiben. Dein Vater bekam dafür eine Bewährungsstrafe, und die Partei sprach ihm eine Rüge aus. Wir
sind weggezogen, in ein anderes Dorf. Eins ohne Pastor. Und ich habe angefangen nachzudenken.
Elisa stellt die Teller übereinander, legt das Besteck drauf, deckt alles mit zwei Servietten zu und schiebt den kleinen Stapel
an den Rand des Tisches. Als die Kellnerin kommt, bestellt sie zwei Gläser Weißwein, trocken. Sie weiß, dass man an solchen
Orten ungefragt immer halbtrockenen Wein bekommt.
Fand Klara die Prügelei denn gut?
Nein, natürlich nicht. Sie war für Recht und Gesetzund konnte deinen Vater sowieso nicht gut leiden. Sie hat uns im Prinzip recht gegeben und die Prügelei verurteilt. Und als
ich dann nach diesem Gespräch mit ihr in der Küche beim Abwasch war, hat sie noch beiläufig gesagt: Du bist durch eigene Schuld
an diesen Bauern geraten, Henriette. Er sieht nicht gut aus, er hat keine Manieren, aber er hat dich geheiratet. Mit dem Bastard.
Du bist selbst für dein Leben verantwortlich, das du jetzt führst.
Da habe ich dann meine Tasche gepackt, den Bauern und dich genommen und bin wieder aufs Dorf gefahren.
Und du hast nie wieder mit Klara geredet?
Doch, einmal noch. Aber das kann ich dir jetzt nicht erzählen, Elisa. Wir sind hier schließlich im Urlaub, und ich möchte
mich wohl fühlen, hörst du. Morgen, wenn wir das Haus gesehen haben. Aber nur, wenn es noch steht.
Elisa betrachtet ihre Mutter und sieht die kleinen senkrechten Fältchen am Mund. Der Lippenstift, den Henriette vor dem Abendessen
aufgelegt hat, ist verschwunden. Abgegessen. Henriette hat sich sogar die Mühe gemacht und mit grauem
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