Alle Zeit - Roman
nichts verraten, schon gar nicht dieser Furie mit den großen
Brüsten.
Klara schiebt die linke Hand vom Bauch nach oben. Dahin, wo die Reste ihrer Weiblichkeit hängen müssten. Nichts. Gar nichts.
In den ersten Jahren nach der Operation hat sie oft geträumt, dass ihr neue Brüste wachsen. Aber nun doch schon lange nicht
mehr. Obwohl dieser Aaron sicher seinen Spaß an neuen Brüsten hätte. Goldstein. Das gibt es doch nicht, dass der Goldstein
heißt. So einen hatten sie auch in diesem Komitee. Wo die ganzen Antifaschisten saßen und sich darüber Gedanken machten, wie
sie die Nazis wegkriegen. Der hieß aber nicht Goldstein, oder? Der hieß irgendwas mit einem Tier. Ganz einfacher Name. Wolff.
Genau, Wolff, das stimmt jetzt. Und der war Jude und hat es auch noch immer gesagt.Dass er aus dem Lager kommt und Jude ist. Dafür hat ihn keiner gemocht. Für das Lager nicht und für den Juden schon gar nicht.
Der Russe.
Klara rutscht vom Stuhl und auf die Knie und beugt den Rücken, so weit es noch geht, um an die Schachtel zu kommen. Wolff,
murmelt sie und schiebt das Gebiss mit der Zunge nach vorn. Den haben die doch nach Sibirien, oder ist der.
Klara greift die Schachtel und braucht zwei Minuten, um wieder hochzukommen von den Knien und vom Boden. Sie legt sich aufs
Bett und stellt die Schachtel auf ihren Bauch. Wolff ist aus ihrem Kopf verschwunden. So schnell, wie er reingekommen war,
ist er wieder rausgerutscht. Klara macht die Schachtel auf und nimmt das Foto. Das, auf dem der hübsche junge Mann zu sehen
ist. Der aussieht wie Johannes Heesters. Jedenfalls fast. Die blauen Augen und die Frisur, alles wie bei Heesters. Nur dass
dieser Mann hier ihr gehörte. Jedenfalls zeitweilig. Kam in Friedenszeiten aus dem Krieg zurück. Mager wie eine kranke Ziege.
***
Der Russe fasst Klara nicht mehr an, seit sie in der Scheune ihre Unschuld verloren hat. Als wäre ihm der deutsche Vergewaltiger
einer zu viel gewesen. Sonst hat es ihn nicht gekümmert, ob Klara noch für andere die Beine breit macht. Er hat jedenfalls
nie gefragt. Aber der deutsche Vergewaltiger, mit dem wollte er wohl nicht teilen. Klara ist es nur recht. Auch wenn sie am
Ende ganz gern mit dem Russen. Aber so reden die Leute weniger, vielleicht. Und vielleicht hören sie irgendwann ganz auf.
Außerdem bleibt mehr Zeit für das Kind. Das muss langsam mal von der Kaffeekanne entwöhnt werden. Redet immer noch, selbst
wenn Klara zu Hause ist, mit dem Teil, als sei es diebeste Freundin. Außerdem benimmt sich der Russe anständig. Hat ihr das Fahrrad gelassen und spricht sie nun mit Genossin Klara
an.
In die Partei ist sie gegangen, damit alles seine Ordnung hat und wegen dem Russen. Aber eigentlich gefällt ihr auch die Strenge,
mit der hier alles gesehen wird. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das sind doch klare Sätze. Und nicht unvertraut. Haben
die Nazis auch gesagt, nur eben anders gemeint. Klara ist jetzt so was wie eine Funktionärin. Muss sich um die Frauen kümmern,
nicht mehr um die Bauern. Dafür hat der Russe auch noch gesorgt. Dass sie nicht mehr in Scheunen kriechen muss, wo Vergewaltiger
lauern.
Die Frauen sind freundlicher. Die meisten haben ja auch mal die Beine breit gemacht, oder machen müssen, für den Besatzer
oder Befreier. Je nachdem, wie sie es halt betrachten. Manchen ist sogar ein Kind im Bauch gewachsen. Ein kleiner Iwan. Über
die wird natürlich eine Menge geredet. Die sind Flittchen, wie Klara, der es so viele Vorteile gebracht hat, beim Russen im
Bett zu liegen.
Klara kümmert sich um die Frauen, so gut es ihr möglich ist. Meist geht es um die Versorgung. Mit allem, mit wenigem. Essen,
Medizin, ein bisschen Wäsche für die Kinder, Bücher. Klara ist nur unterwegs, um zu versorgen. Und sie macht das gut. Zweigt
nie was für sich und das Kind ab, das immer magerer wird und immer größer. Die Kaffeekanne hat sie hoch auf das Küchenbord
gestellt. Damit das Kind nicht mehr redet mit dem Stück. Dann ist es auf einen Stuhl geklettert und weiter auf die Stuhllehne
und umgekippt. Hat sich den Arm verstaucht und eine Gehirnerschütterung geholt. Also nimmt Klara die Kaffeekanne wieder vom
Regal und stellt sie auf den Küchentisch.
Manches bessert sich sogar. Aus Trümmern sind sortierte und geputzte Steine geworden, aus Uniformen Röcke und Mäntel für die
Frauen. Am letzten Sonntag haben im Dom die Glocken geläutet. Irgendjemand muss sie repariert haben.
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