Alle Zeit - Roman
hässlichen kleinen Buffet und packt die Vase in den Rucksack. Sie dreht
sich um, sieht sich ihre verheulte Mutter an, die nichts mit Klara zu tun haben möchte, aber andauernd mit ihr beschäftigt
ist. So oder so beherrscht die alte Frau unser Leben, denkt Elisa, und nun tut ihr Henriette leid. Was auch immer geschehen
ist zwischen ihrer Mutter und Klara, es hat wohl zwei Verliererinnen gegeben. Elisa schaut sich noch einmal in dem Zimmer
um, das ihr nur vage bekannt vorkommt. An der Wand hängt ein verrottetes Wildschweinfell.
Auf dieses hässliche Stück war Franz immer ganz stolz, sagt Henriette. Und wir haben uns immer vorgestellt, dass sich in dem
Fell ganz viel Ungeziefer befindet.
Elisa und Henriette verlassen die Hütte. Sie schleichen sich über die Terrasse, lassen Olafs Haus links liegen. Es schneit
stärker, und der Weg ins Hotel sollte jetzt schnell bewältigt werden.
Ich will das jetzt hinter mich bringen, schnauft Henriette und drängt sich dicht an Elisas Seite. Es ist doch am Ende eine
ganz banale Geschichte. Ich war verliebt. Mehr als das. Es sollte alles richtig werden. Nach der Weiterbildung haben wir uns
heimlich getroffen. Einmal im Monat, in der Kleinstadt, wo dieser Mann, Thomas, lebte. Ich erfand eine Freundin, die ich bei
der Weiterbildung kennengelernt hatte, um einmal im Monat in einen Bus zu steigen und zu Thomas zu fahren. Thomas, der überhaupt
nicht mit dem Leben in diesem Land klarkam. Und der wollte, dass ich mit ihm zusammen fortgehe. Das Land verlasse. Aber selbst
wenn ich das gewollt hätte, wäre es ja nicht gegangen, wegen der Kinder.
Und dann haben sie’s Klara gesteckt. Unsere ganze kleine Welt war ja damals nur ein Dorf. Der Parteisekretär der Schule, in
der Thomas arbeitete, erzählte es Klara.Am Ende waren sie alle Denunzianten. Irgendwie. Und Klara, die Verfechterin einer sozialistischen Moral, die katholischer
war als die katholische Kirche, stellte mich zur Rede.
Ich war ihr ja nicht gewachsen. Ich habe keine halbe Stunde standgehalten. Und dann alles gebeichtet. Um Klara zu beruhigen,
ihr zu sagen, dass es sowieso nichts werden könne mit Thomas und mir, dass dies nur eine Geschichte sei, die sie mir doch
einfach gönnen sollte, wo es bis jetzt nur schlechte Geschichten in meinem Leben gegeben habe. Um ihr das klarzumachen, habe
ich erzählt, dass Thomas nicht in diesem Land bleiben werde. Dass er fortgehen wolle. Ich habe mir tatsächlich eingebildet,
Klara würde es hinnehmen und mir die verbleibenden Monate gönnen. Wie will er denn das Land verlassen, Henriette, hat Klara
mich gefragt, und ich naive, gehorsame, blöde Tochter habe gesagt, was ich wusste. Dass Thomas abhauen wollte, keinen Ausreiseantrag
stellen.
Die lassen mich doch nicht gehen, Henriette, hat er immer gesagt. Die lassen mich schmoren und werden mir das Leben schwermachen,
bis ich alt und krumm bin.
Klara hat nur genickt, als ich ihr das alles erklärte. Sie war meine Mutter. Sie war vielleicht keine gute Mutter, aber ich
habe ihr trotzdem vertraut. Ich habe immer darauf gebaut, dass sie trotz aller Geschichte und Geschichten mehr Mutter als
Genossin sein würde. Im Ernstfall.
Eine Woche später haben sie Thomas abgeholt, ihm den Prozess gemacht und ihn nach Bautzen geschickt. Ins Gefängnis. Für eine
ganze Reihe von Jahren. Und sie haben ihm erklärt, dass ich am Ende doch mehr treue Staatsbürgerin als Ehebrecherin gewesen
sei. Thomas hat die ganzen Jahre im Knast gesessen und geglaubt, ich hätte ihn mit Absicht verraten. Das ist eine billige
Romangeschichte. Weißt du, Elisa.
Henriette bleibt stehen und versucht sich den Schnee von den Schultern zu klopfen und aus dem Gesicht zu wischen. Schnee oder
noch mehr Tränen, was auch immer. Elisa schaut auf ihre Mutter und findet die Geschichte auch banal. Und schrecklich. Kommt
wirklich nur Klara in Frage?
Henriette zuckt mit den Schultern und sagt: Ich habe sie nicht gefragt. Ich habe sie nie wieder etwas gefragt. Nachdem Thomas
weg war, bin ich noch ein paar Jahre mit deinem Stiefvater zusammengeblieben. Dann habe ich die Scheidung eingereicht und
um Versetzung in eine andere Schule gebeten. Ich habe ein Fernstudium aufgenommen und konnte dann nach fünf Jahren endlich
den Schuldienst verlassen. Alles lief geregelt. Auch ohne Klara. Ich bin sicher, dass sie es war, die Thomas verraten hatte.
Sie hat ja auch vom ersten Tag an akzeptiert, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun
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