Alle Zeit - Roman
gezwungen wurde, weil sie es nie geschafft hat, sichzu wehren. Jetzt ich noch, denkt Elisa. Aber nun haben wir angefangen.
Im Hotelzimmer rüsten sich die beiden Frauen für ihre Wanderung.
Zieh dich bloß warm an, sagt Henriette und schaut skeptisch aus dem Fenster. Elisa packt noch eine Strickjacke in den Rucksack
und zwei Bananen, die sie im Frühstücksraum genommen hat, als die Kellnerin gerade woanders beschäftigt war. Sie streift sich
zwei Paar Socken über und ermuntert Henriette, es auch so zu tun. Du wirst sehen, wir brauchen nur warme Füße, der Rest ist
nicht so wichtig.
Als sie das Hotelfoyer verlassen, winkt die Frau an der Rezeption ihnen zu und ruft, es seien schwere Schneefälle angekündigt
und sie sollten vorsichtig sein. Elisa winkt mit der Wanderkarte in der Hand zurück. Sie kann Karten nicht lesen. Aber eigentlich
ist der Weg ja klar. Sie sind ihn gestern gelaufen und werden ihn heute noch einmal gehen. Nichts kann passieren.
Zwanzig Minuten später sind sie im Wald, und Henriette atmet tief ein und aus und fängt dann unvermittelt an zu reden. Elisa
läuft neben ihr, wie zum Trost oder Schutz, bereit, Henriette die Erzählung zu erlassen, wenn es der zu schwer wird.
Dein Vater, dein Stiefvater, verbessert Henriette sich gleich, war nichts weniger als meine große Liebe.
Ein toller Anfang, denkt Elisa, sie hätte ja auch sagen können, dass sie ihn nicht geliebt hat.
Ich habe ihn nicht geliebt, sagt Henriette und schielt zu Elisa, die erleichtert scheint. Er war cholerisch, rechthaberisch,
und er wusch sich viel zu selten. Das hat mich am meisten gestört. Glaube ich. Manchmal, wenn ich morgens im Winter als Erstes
die beiden Öfen in den Zimmern anheizen musste, bei ungefähr fünf Grad übernull und mit klammen Fingern, schlich er sich von hinten an mich ran und steckte seine kalten Hände unter mein Nachthemd,
um sie mir auf die Brüste zu legen. Dann konnte ich ihn spüren und riechen. Er roch sehr stark, nach so einer Nacht unter
diesen dicken Federbetten. Ich kann den Geruch heute noch identifizieren. Wenn mir ein Mann gegenübersteht, der so riecht,
fange ich an mich zu ekeln. Gestern Abend, der roch kaum. Ich mag Männer, die kaum riechen. Dein Vater. Dein Stiefvater war
nicht so einer. Den roch man, noch bevor er zu sehen war.
Ich habe ihn nicht geliebt, und Klara wusste das. Sie mochte ihn auch nicht wirklich. Aber er war der Mann, der ihre Tochter
wieder ehrbar gemacht und dem Bastard einen Namen gegeben hatte. Das rechnete Klara ihm schon hoch an. Ich konnte mit ihr
nicht darüber reden, dass ich fortwollte. Sie hörte einfach nicht zu. Scheidung war auch so eine Sache, die in ihrer Vorstellung
vom Leben nicht unbedingt vorkam. Ihren Frauen auf dem Land und in der Stadt predigte sie zwar immer, wie wichtig und gut
es sei, dass der sozialistische Staat ihnen allen ökonomische Unabhängigkeit ermöglichte, aber wenn es um die eigene Tochter
ging, war sie anders. Meine Schwangerschaft hat sie katholisch werden lassen. Sozusagen. Er schlägt mich, habe ich mal zu
ihr gesagt, um zu testen, ob sie mich dann befreit. Ich wollte ja befreit werden. Ohne Klara hätte ich nie gewagt, wegzugehen,
die Scheidung einzureichen. Ich bin nicht geschlagen worden. Es war ein Test. Und Klara hat mir sofort auf den Kopf zugesagt,
dass ich lüge. Sie wusste, dass er ein Choleriker war, einer der dir hin und wieder eine runterhaute, der brüllen konnte,
dass du dich unterm Bett versteckt hast, bis es vorüber war. Aber sie wusste auch, dass er mich nicht schlug.
Elisa hört zu, und dabei fällt ihr ein, dass sie ihr Handyim Hotelzimmer hat liegen lassen. Warum sie jetzt daran denkt, ist ihr nicht klar. Sie wischt den Gedanken auch gleich beiseite
und nimmt Henriette kurz an die Hand. Quer überm Weg liegt ein großer Baumstamm. Henriette drückt Elisas Hand fester als notwendig
und küsst sie kurz auf die Wange. Wir kommen uns näher, denkt Elisa und ist für diesen Moment glücklich. Egal, was hier rauskommt,
für uns beide jedenfalls wird es gut sein. Und wenn Henriette will, dann lasse ich das mit Klara. Wenn es ihr wichtig ist.
Mir fiel damals einfach nichts ein, wie ich den Mann loswerden kann. Alle mochten ihn. Er war, wie die Leute so sagten, ein
feiner Kerl. Oder ein patenter Kerl oder ein guter Kumpel. Im Vergleich zu vielen anderen im Dorf mochte das stimmen. Er machte
es nicht mit Tieren, schlief nicht mit seiner Tochter,
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