Alle Zeit - Roman
es
nie einen wirklichen Grund für dieses langjährige Zerwürfnis gab. Dass Klara umsonst einsam alt und vergesslich geworden ist,
niemanden hat, der mit ihr die letzten Erinnerungen teilt, bevor sie sich fortmacht. Ich werde melodramatisch, denkt Elisa
und bestellt sich ein Glas Wein. Sie murmelt eine Entschuldigung, geht zum Zigarettenautomaten. Die Kellnerinnen räumen die
Tische ab, und vorn im Saal bauen zwei Männer Lautsprecher und eine Musikanlage auf. Ich hoffe, die spielen hier keine Livemusik,
sagt Elisa und entlockt Henriette ein kleines Lächeln.
Der Hanuller kommt an ihren Tisch, fragt, ob er sich kurz dazusetzen könne. Henriette nickt, schenkt ihm ein großes Lächeln.
Zwei Männer an einem Tag, denkt Elisa und staunt über ihre Mutter. Erst Olaf und jetzt der hier. Henriette ist ein fremdes
Wesen.
Elisa steht auf und sagt, sie wolle noch eine Runde ums Haus drehen und sei gleich wieder da. Das gefällt dem Hanuller,er strahlt sie an. Wenn sie zurückkommt, ist sie ihre Mutter wahrscheinlich endgültig los. Draußen riecht es nach Schnee.
Bildet sich Elisa ein. Sie kann keinen Schnee riechen, so etwas verlernt man in der Stadt. Auf jeden Fall aber ist der Himmel
bedeckt, und niemand kreuzt Elisas kleinen Rundweg. Als sie nach zwanzig Minuten wieder in den Saal kommt, kann sie Henriette
nicht finden. Der Tisch, an dem sie mit dem Hanuller saßen, ist leer. Elisa geht in die Bar, und da sitzen sie beide auf den
unbequemen Barhockern und nippen an einem grasgrünen Cocktail. Henriette balanciert ihren hellblauen Strohhalm vorsichtig
um die auf den Glasrand gespießte Ananasscheibe, in der zu allem Unglück auch noch ein goldglänzender Wedel steckt.
Für dieses Ding hätte ich früher meine Mutter verkauft, sagt Elisa, als sie hinter Henriette und dem Hanuller steht. Sie zieht
den goldenen Wedel aus der Ananas und fängt sofort an, ihn manisch zwischen Daumen und Mittelfinger hin und her zu drehen.
Du hast sie gesammelt und unter deinem Kopfkissen versteckt. Wenn wir mal Eis essen waren. Und die kleinen Papierschirmchen
dazu.
Für meine Puppenstube, murmelt Elisa. Die Puppenstube, die mir Klara geschenkt hat.
Henriettes Gesicht zeigt Spuren von Zermürbung. Morgen, flüstert sie. Wenn wir noch mal zum Haus wandern. Dann dreht sie sich
zu ihrem Hanuller um, und Elisa sagt ihr auf den Rücken zu, dass sie sich im Fernsehen einen Film ansehen wolle. Henriette
nickt, und der Hanuller glaubt ein weiteres Mal, dass er es hier mit einer liebenswerten Kupplerin zu tun hat, die ihm die
Chance seines Urlaubs gibt. Du wirst dich noch wundern, denkt Elisa. Henriette ist schüchtern wie eine Siebzehnjährige. Keine
Chance.
Sie geht ins Hotelzimmer und schaltet den Fernseher ein. Vielleicht gibt es eine Fortsetzung vom Bauern, der eine Frau sucht.
Elisa bleibt bei einem Dokumentarfilm über Autisten mit besonderen Fähigkeiten hängen. Der interessiert sie eine Stunde lang,
dann schläft sie ein und wacht erst wieder auf, als die Tür leise geöffnet und geschlossen wird. Sie gibt Henriette kein Zeichen.
Die nimmt ihr vorsichtig die Fernbedienung aus der Hand, drückt erst drei falsche Knöpfe, von denen einer der Lautstärkeregler
ist, bevor sie den richtigen findet, um den Apparat auszuschalten. Sie geht ins Bad und stößt sich dabei an der Minibar. Elisa
muss nun doch lachen und macht die Augen auf und sagt: Hat der Hanuller dich willig geredet?
Henriette schüttelt den Kopf und murmelt was von Telefonnummern getauscht und dass sie erst darüber nachdenken müsse. Sie
verschwindet im Bad, kommt nach fünf Minuten wieder raus, legt sich ins Bett und fragt, wann man am nächsten Morgen frühstücken
wolle.
Nicht vor acht, sagt Elisa, wir können ja erst im Hellen los.
Ich bin müde, sagt Henriette und sagt nicht, ich will jetzt nicht mehr reden. Aber so ist es das Gleiche. Elisa macht das
Licht aus und stellt an diesem Abend keine Fragen mehr, sondern wartet einfach, bis sie hört, dass Henriette eingeschlafen
ist. Dann erst dreht sie sich zur Seite.
Der Himmel ist am nächsten Morgen grau und schwer. Beim Frühstück plaudert Henriette, wie sie es nur selten tut. Über Arbeit
und Juli und die Stadt im Winter und Cocktails, die sie früher gern getrunken hat. Soll sie nur, denkt Elisa und weiß plötzlich
gar nicht mehr genau, warum sie beharrlich ist. Warum sie ihre Mutter zwingen will, die sowieso in ihrem Leben zu allen möglichen
Dingen
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