Alle Zeit - Roman
haben wollte.
So wird es gewesen sein, denkt Elisa und ist verwundert darüber, dass es so viele Geschichten dieser Art gibt. Ausgerechnet
Klara, die ein wenig wie ein Mythos über allem zu stehen schien. Jetzt eine alte, vergessliche Frau mit einem langen Leben
hinter sich und nicht mehr viel, was sie noch erwarten konnte von der verbleibenden Zeit. Klara, eine Russenhure, eine Rabenmutter,
eine Verräterin, eine Denunziantin.
Ich hatte mir ein ganz anderes Bild von Klara gemacht, sagt Elisa und treibt Henriette ein wenig zur Eile. Lass uns da vorn
rechts den Weg nehmen und nachher auf der Straße weiterlaufen. Wir schaffen es nicht durch den Wald. Es schneit zu stark.
Henriette sieht ängstlich aus. Und müde. Sie zieht ein Bein nach wie eine alte Frau. Elisa schaut sich ihre Mutter an und
fühlt Sorge. Nun hat sie die Geschichte gehört und wünscht sich, es ungeschehen machen zu können. Fastnoch größer ist der Wunsch, mit Henriette im Hotelzimmer zu sein. Die Landschaft wird immer fremder. Elisa weiß nicht, wie
weit es noch bis zur Straße ist, und auch nicht, wie viele Kilometer sie dann noch bis zum Hotel laufen müssen. Sicher mehr,
als es durch den Wald wären. Aber für diesen Schneesturm und den Wald sind sie beide nicht gerüstet.
Erst nach vierzig langen Minuten sieht Elisa die Straße. Sie ist verschneit und nicht geräumt. In dieser Gegend sind die Leute
wahrscheinlich an solche Umstände gewöhnt, denkt Elisa und spürt, wie Henriette an ihrer Seite immer langsamer wird. Sie versucht
noch ein paar aufmunternde Worte zu sagen, aber Henriette reagiert nicht. Sie scheint alle Kraft zu brauchen, um einen Fuß
vor den anderen zu setzen.
Auf der Straße läuft es sich fast genauso schwer wie durch den Wald. Es scheint schon ewig kein Auto mehr hier entlanggefahren
zu sein. Elisa zieht Henriette mehr in Richtung Straßenmitte. Dort läuft es sich leichter. Ein bisschen jedenfalls. Inzwischen
ist auch der Wind viel lauter geworden. Was für ein Inferno, denkt Elisa und drückt Henriettes Hand noch fester. Und kein
Ende in Sicht. Elisa glaubt und hofft, dass hinter der nächsten Kurve das Dorf liegt. Warum auch immer. Es muss da liegen,
auch sie hat keine Kraft mehr.
Die Kurve ist eng, fast rechtwinklig. Rechts ragen Felswände auf, und links geht es offensichtlich steil bergab. Da unten
muss die Bode fließen, denkt Elisa noch und hört nicht, wie Henriette neben ihr schreit.
Der Fahrer des Lasters hat die Kontrolle über das Fahrzeug schon vor der Kurve verloren. Aber vielleicht wäre noch alles gutgegangen.
Vielleicht wäre er irgendwie um die Kurve gekommen und in der Spur geblieben. Wer weiß. Dass diese beiden lebensmüden Frauen
da mitten auf derStraße laufen, genau in jenem Moment, da der Fahrer das Unmögliche versucht, um den schweren Wagen zu halten, ist Pech. Schicksal
ist das, und nichts mehr lässt sich ändern.
Beide Frauen sind sofort tot. So viele Tonnen Gewicht, die über sie hinwegrollen, gleiten, rutschen und erst nach Hunderten
Metern zum Stillstand kommen. Da lässt sich nichts mehr machen. Nicht mal mehr ein Gedanke denken.
Später sagt der Fahrer aus, dass die Frauen es wohl darauf angelegt hätten. Lebensmüde müssen die gewesen sein, in einem solchen
Schneesturm mitten auf der Straße zu laufen. Wo man die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Und der Wind so laut heulte,
dass auch nichts mehr zu hören war.
Das mit dem Selbstmord wird eine Weile in Erwägung gezogen. Man befragt Elisas Tochter. Und die Mutter von Henriette. Beide
können nichts zu den Ermittlungen beitragen. Die Junge steht unter Schock, und der Alten geht es nicht anders. Die müssen
sie sogar ins Krankenhaus einliefern, so schlimm steht es. Am Ende befinden die Behörden, dass es ein Unfall gewesen sein
muss. Auch wenn ein kleiner Zweifel bleibt.
Klara fühlt sich wieder gut. Sie weiß genau, was sie und Aaron heute vorhaben, und ihre Gedanken nehmen andauernd Reißaus.
Sie steht vor ihrem Kleiderschrank und überlegt nun schon eine halbe Stunde, was sie anziehen könnte. Sie hat auch so ein
Gefühl, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben darüber Gedanken machen sollte, was sie drunter trägt. Schließlich wird
im Hotelzimmer irgendwann der Moment kommen, da sie sich ausziehen muss. Oder will. Ich könnte das natürlich im Bad machen,
denkt Klara. Aber ob Aaron sich das so vorstellt? Himmel, was für ein Dilemma. Sie muss nun doch
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