Allein auf Wolke Sieben
Du kannst das ganz einfach beim Chef beantragen.«
»So, beim Chef also, ja?«, fahre ich sie plötzlich wütend an und sie zieht ein wenig erschrocken den Kopf ein, während um uns herum die Gespräche verstummen. Alle Helfer drehen sich in meine Richtung und auch Thomas sieht besorgt von seinem Papierwust hoch. Ich versuche, ein möglichst harmloses Gesicht zu machen, während ich aus dem Mundwinkel heraus zische: »Falls du es noch nicht mitbekommen hast, habe ich dem Chef, seit ich hier bin, vierhundertsiebenunddreißig Briefe geschrieben, den von heute mit eingerechnet. Und hat er sich bequemt, auch nur auf einen einzigen davon zu antworten?«
»Nein«, gibt Nina kleinlaut zu.
»Also scheint die Kommunikation zwischen ihm und mir ja nicht besonders gut zu funktionieren«, stelle ich fest. »Und außerdem sehe ich es überhaupt nicht ein, mich fortzubilden, wenn ich sowieso keine Lust mehr auf den Job habe.«
»Aber du hast ihn dir doch …«
»Ich weiß, dass ich ihn mir ausgesucht habe. Damals war ich jung und naiv. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr, den Handlanger zu spielen für diesen Mistkerl, der in völliger Willkür unschuldige Menschen aus dem Leben reißt«, sage ich heftig und sehe, wie Nina zusammenfährt.
»Pssst«, zischt sie beschwörend und legt den Zeigefinger auf die Lippen. »Um Gottes willen, sei doch still.«
»Wenn es sein Wille ist, dass ich still bin, dann soll er doch bitte herkommen und versuchen, mir den Mund zu verbieten. Ich hätte dem sauberen Herrn noch so einiges zu sagen«, rufe ich kampfeslustig, während Nina aussieht, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Mit hochgezogenen Schultern und furchtsamen Augen steht sie da, als erwarte sie jeden Augenblick tatsächlich die Erscheinung des Chefs. »Keine Sorge, der kommt nicht«, versuche ich sie zu beruhigen, denn da bin ich mir wirklich hundertprozentig sicher. Schließlich musste sich Thomas schon weitaus heftigere Klagen über unseren Boss von mir anhören. Aufgetaucht ist er nie. Der alte Feigling! Und jetzt soll ich ihn auch noch gnädigst um Erlaubnis bitten, an einem Seminar teilnehmen zu dürfen? Um die von ihm ausgewählten Menschen noch schneller von der Erde ausradieren zu können? Nein danke! Hätte ich mir doch bloß etwas mehr Zeit für die Berufswahl genommen. Aber nein, kaum stand ich wieder
auf zwei Beinen, musste eine Beschäftigung her, obwohl ich damals wirklich noch nicht in der emotionalen Verfassung für eine derart weitreichende Entscheidung war. Ich habe einfach die Stelle angenommen, für die eine möglichst kurze Ausbildungszeit erforderlich war und in der ich möglichst häufig auf die Erde zurückkehren konnte. Weil ich mich dort nach wie vor lieber aufhalte als hier oben. Allerdings hatte ich auch noch ein anderes Motiv...
WIEDER AUF DER ERDE
An meinem ersten Arbeitstag bei »Soulflow«, genau sechs Monate und dreieinhalb Wochen nach meiner Ankunft im Himmel, erwache ich, noch bevor der erste Sonnenstrahl durch mein Fenster fällt und mich in der Nase kitzelt. Mit klopfendem Herzen liege ich auf meinem Bett und sehe hinaus in den dunklen Himmel, an dem Abertausende von Sternen funkeln. Zum ersten Mal, seit ich hier oben bin, sehne ich den Sonnenaufgang herbei. Ich bin so unruhig, dass ich schließlich aufstehe und mich in meinem weißen, bodenlangen Nachthemd auf das Fensterbrett setze. Die Luft ist angenehm klar und so kühl, dass ich mir schnell noch eine flauschige Wolldecke um die Schultern wünsche. Endlich bequemt sich die Sonne, hinter dem Horizont hervorzukommen und den Wolkenboden während ihres Aufstiegs erst zartrosa, dann leuchtend orange und schließlich flammendrot zu färben. Fasziniert betrachte ich dieses wundervolle Schauspiel und kann mich an den
vielfältigen Farben kaum sattsehen. Vielleicht sollte ich öfter mal ein wenig früher aufstehen, überlege ich, als mir einfällt, was für ein Tag heute ist und dass ich eigentlich gar keine Zeit habe, herumzusitzen. Aufgeregt hüpfe ich von der Fensterbank herunter und stelle mich vor den großen, goldgerahmten Spiegel, den ich erst gestern angeschafft habe. Bisher war es mir nämlich immer ziemlich egal, wie ich aussah. Das ist nun ganz anders. Konzentriert sehe ich an mir herunter. Was ziehe ich bloß an?
»Einen knielangen, braunen Wickelrock«, sage ich laut und spüre sofort eine Veränderung um meine Beine herum. »Das Nachthemd aus«, kommandiere ich dann, damit ich etwas sehen kann. Jetzt bin ich oben ohne, aber der Rock
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