Allein auf Wolke Sieben
Nacht begleitet hat. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Der operierende Arzt gibt halblaute Anweisungen an die OP-Schwester, und kurz darauf höre ich ein unangenehmes Schlürfen und Saugen. Die Herzfrequenz der Patientin schnellt plötzlich nach oben und in das ruhige Team von Ärzten und Schwestern kommt hektische Betriebsamkeit.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, höre ich eine
Stimme neben mir und blicke in das bildschöne, aber zornige Gesicht einer dunkelhaarigen Frau, die neben mich getreten ist.
»Hallo«, sage ich und werfe ihr ein beschwichtigendes Lächeln zu, das seine Wirkung leider verfehlt.
»Das kann einfach nicht wahr sein«, wiederholt sie noch lauter als zuvor und stellt sich dicht an den Operationstisch. »Was soll der Blödsinn«, wettert sie, »warum tust du das?« Natürlich kommt von der Bewusstlosen keine Antwort, weshalb ich mich wieder zaghaft in Erinnerung rufe.
»Ich heiße Lena«, stelle ich mich vor.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich heiße«, sagt die Hübsche missmutig. »Noch nicht einmal einen Namen habe ich. Das ist doch scheiße, oder etwa nicht? Scheiße ist das!« Herausfordernd sieht sie mich an und ich fühle mich genötigt, ihr beizupflichten.
»Ja, stimmt«, nicke ich. Schließlich hat sie Recht, scheiße ist das.
»Kammerflimmern«, ruft jemand, und dann: »Herzalarm.«
»Nehmen wir sie mit?«, erkundigt sich die Namenlose bei mir und ich schüttele den Kopf.
»Nein, sie überlebt.« Stumm stehen wir nebeneinander und beobachten die Reanimation.
»Ich glaube, jetzt hat er ihr eine Rippe gebrochen«, sagt meine Nachbarin und ein schadenfrohes Lächeln umspielt ihre Lippen. In diesem Moment setzt der Herzschlag wieder ein.
»Wir haben sie.«
»Ich glaube, ich heiße Anastasia«, sagt die Frau neben mir entschlossen.
»Das ist ein schöner Name«, finde ich und lächele ihr zu.
»Dann geht’s wohl jetzt wieder nach oben«, meint sie und wirft noch einen verstimmten Blick auf ihre Mutter, die gerade an uns vorbei aus dem Operationsraum geschoben wird. »Das war ja ein kurzes Vergnügen.«
Weil der OP kein Fenster hat (und wohl auch niemand daran denken würde, es nach einer Abtreibung aufzumachen, um die Seele davonfliegen zu lassen), müssen wir uns wohl oder übel durch das Gewirr von Krankenhausfluren den herkömmlichen Weg nach draußen suchen.
»Wenn sie dich nicht haben wollte, wäre es auch keine schöne Kindheit geworden«, versuche ich Anastasia zu trösten, die finster blickend neben mir hertrottet.
»Weiß ich doch«, gibt sie zurück, »es ist nur der ganze unnütze Behördenkram, der mich ärgert. Hast du eine Ahnung, wie lange es dauert, bis man bei ›Reincarnation‹ ein Visum bekommt, um auf die Erde zurückzukehren? Der Papierkrieg, die Interviews, das ist wirklich kein Zuckerschlecken, das kannst du mir glauben. Und wofür das Ganze? Um nach zehn Wochen gähnender Langeweile in einer Gebärmutter einfach abgesaugt und wieder hochgeschickt zu werden!«
»Tut mir echt leid«, sage ich betreten. »He, du kannst dich ja erinnern«, rufe ich plötzlich aufgeregt und sie nickt.
»Klar doch.«
»Aber ich dachte, wir verlieren die Erinnerung an alles, was vorher war, wenn wir in ein neues Leben starten.«
»Das hast du wirklich geglaubt?«, fragt sie und lächelt mich ungläubig an, »hast du denn noch nie einem Baby
in die Augen gesehen? Kinder wissen, wer sie sind und wo sie herkommen. Sie vergessen es nur, wenn sie älter werden.« Ich muss zugeben, dass ich beeindruckt bin. »Wie sehe ich eigentlich aus?«, wechselt Anastasia plötzlich das Thema und sieht mich fragend an. In diesem Moment wird mir klar, dass die Erscheinung ihrer Seele dem Körper entspricht, in dem sie gelebt hätte. Ich lasse meinen Blick über ihre schlanke Gestalt gleiten, sehe in ihr schmales Gesicht mit dem olivfarbenen Teint, den leicht schräg stehenden blauen Augen und der geraden Nase.
»Du siehst absolut hinreißend aus«, stelle ich fest. »Wie ein Topmodel! Du hast die hellen Augen deiner Mutter, aber sonst siehst du völlig anders aus als sie. Sehr dunkel!«
»Mein Vater ist Brasilianer«, erklärt sie und seufzt gleich darauf tief auf: »Rein genetisch waren die beiden eine wundervolle Kombination. Dummerweise konnten sie keine fünf Minuten in einem Raum sein, ohne sich gegenseitig anzuschreien.«
»Na ja, dann war es vielleicht wirklich besser so, meinst du nicht?«, versuche ich sie aufzumuntern, doch sie schüttelt den Kopf.
»Ich
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