Allein auf Wolke Sieben
Bett in meiner Wohnung zu kümmern, mache ich auf dem Absatz kehrt und stürme in den Flur. Aufgeregt postiere ich mich einen Meter von der Tür entfernt und sehe, wie die Türklinke heruntergedrückt wird. Obwohl ich nie atme, halte ich den Atem an. Obwohl ich kein körperliches Herz besitze, schlägt es mir bis zum Hals.
Kapitel 10
Wahrscheinlich habe ich schon vorher gespürt, dass irgendetwas nicht stimmt. Wenn jemand prädestiniert für übersinnliche Wahrnehmung ist, dann ja wohl ich. Jedenfalls bin ich gar nicht besonders überrascht, als ich eine Sekunde später statt Michael einer zierlichen Blondine um die dreißig gegenüberstehe. Selbstverständlich stehe ich dennoch unter Schock, aber mehr, weil ich denke, das ist der Zustand, in den ich angesichts einer fremden Frau in meiner Wohnung fallen sollte. Tief im Inneren wusste ich wohl schon vorher, dass mein Besuch hier anders ablaufen würde als erwartet. Ich folge Blondi, die in jeder Hand eine prall gefüllte Plastiktüte hält, in die Küche, wo sie ihre Last aufatmend zu Boden fallen lässt. Ich luge hinein und hoffe auf den Anblick von Sagrotan, Spüli, Scheuermilch und Putzlappen. Denn obwohl ich es längst besser weiß, suche ich immer noch einen Beweis dafür, dass es sich bei dem Eindringling um Michaels Putzhilfe handelt.
Dagegen spricht allerdings, dass die Dame vor mir perfekt manikürte Nägel hat, deren beige-rosa Lack an keinem Finger auch nur eine Spur abgeblättert ist, enge Jeans und eine elegante, schneeweiße Bluse aus einem nicht unempfindlichen Material trägt, sich in diesem
Moment seufzend einen Schweißtropfen von der Stirn wischt, obwohl es nicht besonders heiß ist und sie die Plastiktüten lediglich ein Stockwerk hoch tragen musste, und sich in ihren Einkaufstüten Lebensmittel befinden, die sie nun in den Kühlschrank zu räumen beginnt.
Misstrauisch beobachte ich, wie gut sie sich in der Küche zurechtfindet. In meiner Küche. Jetzt unterbricht sie ihre Arbeit und beginnt, in ihrer Handtasche zu kramen, die sie über einen der Barhocker am Tresen geworfen hat. Ich trete näher und erkenne auf dem dunkelbraunen Leder die hellen Buchstaben L und V. Meine Meinung über die Dame sinkt erneut, wenn das überhaupt noch möglich ist. Entweder ist die Tasche echt und damit so viel wert wie ein Urlaub in der Karibik. Politisch korrekter ausgedrückt: wie mehrere Brunnen für Kambodscha. Oder es handelt sich um eine Fälschung. Dann hat sie zwar nicht zu viel Geld dafür ausgegeben, leidet aber meiner Meinung nach an Geschmacksverirrung. Jetzt kramt sie einen flachen Gegenstand hervor, den ich als iPod erkenne. Daran kann ich mich erinnern, die sind ein Jahr, bevor ich ins Koma gefallen bin, auf den Markt gekommen. Neumodischer Schnickschnack, urteile ich, während sie auf dem Teil herumdrückt, bis Musik erschallt. Kopfhörer braucht man also heutzutage nicht mehr. Wie paralysiert stehe ich mitten im Raum, während die Frau summend weiter ihre Einkäufe auspackt. Eine zerbrechlich klingende Frauenstimme singt von einem Mann, der einmal fast ihr Liebhaber geworden wäre und den sie nun nicht mehr vergessen kann.
»Did I make it that easy to walk right in and out of my life?« Das ist also Michaels Freundin, wage ich das erste Mal zu denken. Oder sind sie sogar verheiratet? Ich werfe
einen Blick auf die rechte Hand der Fremden und dann, vorsichtshalber, auch auf die linke. Kein Ring! Puh. Das hätte jetzt wirklich wehgetan. Tut es allerdings auch so schon genug. Eine Eifersuchtsattacke übermannt mich. Hat er mich denn vergessen? Aber nein, mein Foto steht ja noch im Wohnzimmer. Unübersehbar. Ob seine Neue das stört? Ich beobachte, wie sie die geleerten Plastiktüten ordentlich zusammenfaltet. Wie zwanghaft kann man eigentlich sein?
»Warum bügelst du sie nicht auch noch?«, frage ich spöttisch, ohne dass sie mich hören kann. Mit wachsendem Ärger beobachte ich, wie sie sie in der untersten Schublade verstaut.
»Da gehören die aber nicht hin«, krittele ich weiter an ihr herum. Plötzlich wünschte ich mir, die letzten sechs Jahre anders genutzt zu haben. Ich wünschte, ich hätte all die Kurse belegt, von denen Oma Liesel so schwärmt. Ich wünschte, ich hätte den siebten Dan im Materie-Bewegen und könnte jetzt ganz einfach die seitliche Tür an der Küchenzeile öffnen, um der Dame zu zeigen, dass die Plastiktüten dort hineingehören. Und zwar locker zusammengeknüllt. Das wäre ein Spaß, hier herumzuspuken, denke ich
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