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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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heißen. Doch in welchem der Riesenstadtteile bin ich angekommen? Ich kaufe mir an einem Kiosk einen chinesischen Stadtplan und bitte den Verkäufer, mir zu zeigen, wo ich bin. Ich kann zwar auf der Karte nichts lesen, aber als der Mann auf eine Stelle südlich des großen Flusses tippt, weiß ich wenigstens, dass das hier Wuchang ist. Ich halte die Karte noch ein bisschen in der Hand und staune. Ich habe noch nie einen Stadtplan mit so viel Blau gesehen. Das sind alles kleine und große Seen – wovon der Dong Hu, alias Ost-See, der größte innerstädtische See Chinas ist – sowie der Han-Fluss und mein alter Bekannter, der Jangtse, über den hier eine sehr berühmte Brücke führt.

    Schon als Jugendlicher hatte ich in meiner damaligen Lieblingsillustrierten «China im Bild» Fotos von dieser Brücke gesehen und davon geträumt, sie einmal zu überqueren. Zwei Stunden nach meiner Ankunft auf dem Busbahnhof stehe ich an der südlichen Auffahrt und kann mich endlich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass diese Brücke auch heute noch beeindruckend ist: 1,6 Kilometer lang und doppelstöckig, unten fährt die Eisenbahn, oben verläuft die Straße. Es ist die allererste Brücke, die über den Jangtse gebaut wurde, im Jahr 1957, und zwar, so denke ich, von uns, den Maoisten. Ich habe die Brücke praktisch mitgebaut, auch wenn ich im Eröffnungsjahr gerade mal in der Wiege gelegen habe. Aber als Maoist ist man ja ein Teil eines großen Getriebes.
    Aus diesem Grund würde ich gerne die alte Revolutionshymne «Dong Fang Hong» – Der Osten ist rot – hören, während ich die Brücke überquere. Das ist ein Loblied auf Mao Tse-tung, in dem es heißt: «China hat Mao Tse-tung hervorgebracht. Er plant Glück für das Volk. Hurra, er ist der Erlöser des Volkes!» Ich hatte mir diesen bombastischen Song Mitte der Siebziger bei Zweitausendeins geholt. Es gab ihn dort als Single, gesungen vom Chor der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Ich summe oder pfeife das Lied auch heute noch ganz gerne, zum Beispiel wenn ich über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking gehe und hier Mao vom Tor des Himmlischen Friedens auf mich runterschaut. Doch blöderweise ist er nicht auf meinem iPod. Also schalte ich auf Shuffle. Im selben Moment kommt ein Radfahrer in einem Affenzahn von der Brücke heruntergeschossen. Er schreit irgendwas, wahrscheinlich: «Ich habe keine Bremse!» Ich kann ihm im letzten Moment ausweichen. Und der iPod spielt dazu: «You have killed me» von Morrissey, ungelogen.
    «Der Osten ist rot» hätte letztlich auch nicht gepasst. Er ist heute nämlich gar nicht rot, sondern so diesig, dass ich kaum das andere Ufer sehen kann, und die Sonne – die in dem Lied gerade aufgegangen ist – hängt als blasse Scheibe über der Brücke. Trotzdem: Als ich losgehe, bin ich so begeistert wie noch nie auf dieser Reise. Ich fühle mich wieder richtig jung und dumm, Morrissey singt sehr schön, links neben mir staut sich der Verkehr auf der Brücke, und rechts passiere ich einen Soldaten, der im Wachhäuschen strammsteht. In der Mitte der Brücke hat jemand auf das Geländer ein Krokodil gemalt, das «Yeah» sagt. Auch ein passender Kommentar. Ich bleibe stehen und schaue hinunter auf den Fluss, auf dem seltsamerweise heute nur ein einziges Containerschiff flussaufwärts fährt. Und plötzlich fällt mir ein: Gäbe es diese Stadt hier nicht, wäre mein Leben sicher anders verlaufen.
    Wenn es nämlich drüben in Wuchang 1911 nicht eine Erhebung gegeben hätte, die den Sturz des Qing-Kaisers einleitete, dann wären sicher nicht knapp vierzig Jahre später die Kommunisten – für die Wuhan immer eine Hochburg war – an die Macht gekommen. So hätte es aber auch gut zwanzig Jahre später keinen deutschen Maoismus gegeben, und ich wäre wahrscheinlich Zoodirektor geworden oder Missionar statt Querulant. Das hätte allerdings einen großen Nachteil: Ich wäre jetzt nicht hier.
    Am anderen Ende der Brücke, im Stadtteil Hanyang, entdecke ich im Schatten des hohen Viadukts und eines großen Baumes ein zweistöckiges Hotel, das sogar einen Indoorpool hat. Es kostet nur hundertdreißig Yuan, dreizehn Euro. Morgen will ich hier einziehen, denn vorhin bin ich noch im Stadtteil Wuchang in einem Hotel direkt am Busbahnhof abgestiegen.
    Am übernächsten Morgen klopft es an der Tür. Eine junge, ziemlich kleine Frau mit großen, fröhlichen Augen steht davor, sie trägt ein dünnes Sommerkleid. Ohne groß zu fragen, marschiert sie in

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