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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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nicht locker. Nach einiger Zeit beginnt er mich zu nerven. Ich drehe mich um und sage zu ihm: «Ich will dich nicht. Geh weg!» Der Typ brabbelt irgendwas zur Antwort. «Lern du», entgegne ich rüder, als ich eigentlich will, «erst mal Putonghua» – die chinesische Hochsprache, die man im Westen Mandarin nennt – «und komm dann wieder.» Doch selbst die Beleidigung nützt nichts. Ich wechsele die Straßenseite, er wechselt mit, ich gehe zur Busstation und frage etwas am Schalter, er setzt sich in die Wartehalle und wartet, bis ich fertig bin.
    Schließlich mache ich mit bitterbösem Gesicht ein Foto von ihm und drohe, damit zur Polizei zu gehen. Er reagiert darauf nur mit einem: «Thank you.» Ich frage: «Ni feng le ma?» – Bist du verrückt? Da bricht er in ein irres Lachen aus. Was heißt das jetzt: Ja oder nein? Ich werde ihn erst los, als ich mit einem Brotauto-Taxi aus der Stadt fliehe, nach Baidi Cheng, der Stadt des Weißen Kaisers. Diese Ansammlung von zum Teil zweitausend Jahre alten Tempeln liegt rund fünfzehn Kilometer den Jangtse hinab dem Drachentor gegenüber, dem westlichen Eingang der drei Schluchten, und ist praktisch die einzige Touristenattraktion, die Fengjie noch geblieben ist. Das heißt, eigentlich ist es nur die Spitze der Tempelstadt, denn seit 2006 befindet sich Baidi Cheng nicht mehr auf einer Landzunge, die in den Jangtse hineinragt, sondern auf einer Insel. Um dorthin zu gelangen, muss ich durch knietiefen Schlamm waten, nur um mich dann auf der Insel drei Stunden lang beregnen zu lassen. Vor rund tausendachthundert Jahren, so lerne ich, starb hier Liu Bei, ein berühmter Warlord und späterer König des Reiches Shu. Auslöser für seinen Tod waren schwere Depressionen. Wahrscheinlich hatte der Mann die ganze Zeit dasselbe Wetter wie ich.

    Regen ist auch das Erste, was ich sehe, als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaue. Trotzdem will ich Fengjie noch eine Chance geben und steige die endlose Treppe neben meinem Hotel hoch in die Oberstadt. Links und rechts der Treppe liegen anfangs nur Pensionen, die mit Fotos von halbnackten Mädchen und mit ganz billigen Preisen werben. Hier kann man schon für fünf Yuan übernachten. Ich entdecke auch einen Laden, der bestickte Einlegesohlen verkauft, so wie sie das Mädchen in Yichang machte. Was das wohl für Leute sind, die mit Blumen bestickte Einlegesohlen in ihren Schuhen tragen? Okay, Chinesen höchstwahrscheinlich.
    Im oberen Teil der Stadt stehen an einem breiten, schnurgeraden Boulevard prächtige Bankpaläste, es gibt Boutiquen, Kaufhäuser, Supermärkte, und auf dem Großbildschirm an einem Hochhaus laufen die Nachrichten auf CCTV 1, was in China nicht Close-circuit television, also Überwachungskameras, heißt, sondern China Central Television, der landesweite Fernsehsender. Das Wetter aber ist dasselbe wie unten. Es regnet und regnet und regnet. Auf der anderen Seite des Jangtse sehe ich weiße Wolken die Berge hinabfließen. Auf dieser Seite steigen sie wieder hoch und kriechen durch das Tal unter mir hinauf bis in die Straßen der Oberstadt. Auch die Leute hier oben unterscheiden sich nicht von denen weiter unten. Hier wie dort scheinen alle auf irgendetwas zu warten. Die Kaufleute sitzen vor ihren Läden und warten stundenlang auf Kunden, die Stock-Stock-Soldaten auf Lasten, die sie tragen können, die Brotauto-und Mopedtaxifahrer auf Passagiere. Viele hocken auch in kleinen Gruppen zusammen und versuchen die Wartezeit mit Spielen zu überbrücken: Mah-Jongg, Karten oder chinesisches Schach. In einer großen Shoppingmall spielen fünfzig, sechzig Jungs Pool, und oben drüber, auf dem Dach der Mall, flanieren junge Mädchen. Sie warten darauf, dass die Jungs aufhören zu spielen. Ich warte auch, und zwar darauf, dass ich endlich wieder den Regenschirm zuklappen kann. Als es am späten Nachmittag immer noch regnet, beschließe ich, Fengjie abzuschreiben und so schnell wie möglich abzuhauen. Ich bin gerade auf dem Weg zur Treppe, da höre ich aus einer Tordurchfahrt einen großen Krawall. Ein kleiner Mann in einem silbernen Paillettenanzug steht auf einer Lautsprecherbox. Er singt einen mit Technobeat aufgemotzten, bekannten chinesischen Schlager, der als Halbplayback aus der Box scheppert, und schneidet dabei Fratzen. Hinter ihm hängt ein großes Plakat, das nackte, tätowierte Mädchen zeigt und ein Girl, das gerade die Schleife ihres Tangaslips öffnet. Um ihn herum stehen einige Wanderarbeiter im Halbkreis und

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