Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
lauschen halb staunend, halb grinsend. Ich stelle mich dazu und grinse mit.
Der Sänger erinnert mit seinen dicken, nachgemalten Augenbrauen ein bisschen an einen Clown aus einer Pekingoper. Mit seinem Krawall will er uns alle in das Kino nebenan locken, wo seine Truppe gastiert. Zu der gehören auch fünf junge Frauen in Bikinis, die vor dem Kinoeingang posieren. Der Clown agitiert die Massen jetzt mit Worten: «Los, kommt rein. Es kostet nur fünfzehn Kuai. Und», dabei zeigt er auf mich, «über die Anwesenheit unseres ausländischen Freundes würden wir uns besonders freuen.» Okay, wenn das so ist. Und habe ich nicht die Flussroute gewählt, um mehr Abenteuer zu erleben? Ich trete aus der Menge und kaufe mir an der Kinokasse ein Ticket. «Seht», schreit der Clown begeistert, «der ausländische Freund kommt auch!» Die ganze Bikini-Damenriege applaudiert mir, und ein Mann im weißen Seidenanzug – sicher der Direktor der Truppe – schüttelt mir die Hand. Ich bin gerührt. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich in China wieder an-und aufgenommen.
Dabei brauchen sie mich gar nicht dringend, denn das Kino ist schon gut gefüllt. Mindestens zweihundert Leute sitzen im Halbdunkel, und alle kauen Sonnenblumenkerne, die ausgespuckten Spelzen klingen wie feiner Regen, wenn sie auf den Boden rieseln. Ich wundere mich. Bei den Fotos und den Bikinigirls da draußen hätte ich eigentlich nur Männer hier drin erwartet, doch das Publikum ist höchst gemischt. Sogar ein paar Familien mit Kleinkindern sind gekommen. Sie alle beachten den Film kaum, der im Vorprogramm läuft, eine plumpe historische Komödie auf einer VCD mit schweren Pixelfehlern. Statt zuzusehen, schwatzen alle durcheinander, telefonieren oder probieren neue Klingeltöne aus. Als ich mich setze, rotzt mein Nachbar gerade einen großen Fladen neben mir auf den Boden. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Super, man darf im Kino rauchen. Also stecke ich mir auch eine ins Gesicht. Mittlerweile rauche ich «Der Osten ist rot»-Zigaretten aus Hunan, Maos Heimatprovinz, weil es hier keine «Roter Fluss» mehr gibt.
Kaum brennt der rote Osten, geht es los. Ein Mädchen am Keyboard und ein Netzhemdträger am Schlagzeug spielen ein pompöses Intro, gefolgt von einer Flamenco-Nummer mit vier der Bikinigirls, die jetzt rote Kleider und kniehohe Stiefel tragen. Anschließend singt der Direktor persönlich zwei traurige Lieder, die an die Gesänge der Uighuren in den Steppen und Wüsten im Westen Chinas gemahnen sollen. Jeder Song beginnt mit einem langgezogenen hohen Jammerton, den der Direktor nie trifft. Als danach die Mädchen in eng geschnittenen Uniformen ein Standard-Volksbefreiungsarmee-Ballett tanzen, wird mir langsam klar, dass ich hier in eine typisch chinesische Unterhaltungsshow geraten bin, wie sie jeden Abend auf zig Fernsehkanälen läuft. Die einzelnen Programmpunkte sind identisch, der Unterschied ist bloß, dass sie hier von nur zehn Leuten präsentiert werden, die allesamt tanzen, singen, schauspielern und auch ein bisschen Akrobatik bringen müssen, während im Fernsehen ganze Hundertschaften mitmischen.
Nach der Armee kommt wieder Stampftechno, dann der Clown, der mich hereingelockt hat; er kann Hundegebell imitieren und ein Motorrad, das nicht anspringt. Den nächsten Programmpunkt sieht man seltener im Fernsehen: Die Mädchen führen nicht allzu gewagte Unterwäsche vor und versuchen dabei, wie echte Modells herausfordernd und ein bisschen verrucht zu gucken. An Tangaslipschleifchen wird allerdings nicht gezogen. Dafür ziehen sich die Nummern. Besonders lang ist ein Sketch, in dem die Mädchen, das Netzhemd und der Clown mitmachen und der in der Schule spielt. Ich verstehe praktisch nichts und doch alles: Es geht um Vorsagen, Schummeln und Namenswitze, und der Clown, der den Klassendeppen spielt, wird dauernd von der Lehrerin verdroschen. Am besten gefällt mir hier, wie eine der Schauspielerinnen ganz nebenbei auf die Bühne rotzt, was gewiss so nicht im Drehbuch steht.
Dann endlich die Topnummer. Sie muss es sein, denn jetzt betritt eine bisher noch nicht in Erscheinung getretene Person die Bühne. Es ist eine Frau in schwarzer Unterwäsche, über der sie noch ein rotes Negligé trägt. Ich erkenne sie sofort wieder: Es ist Dongmei, die Masseuse aus Yingshan.
Okay, sie ist es nicht. Aber ich muss mindestens dreimal hinsehen, bis ich’s glaube, zu groß ist die Ähnlichkeit. Die Frau auf der Bühne hat Dongmeis Stimme, ihre
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